Erst kürzlich gelang Dr. C. Luebbers (@drluebbers) mit seinem Tweet der große Durchbruch: „Beim Kind mit einer eitrigen Mittelohrentzündung 10 Globuli aus dem Gehörgang geholt...#Homöopathie wirkt: Dummheit potenziert sich“. Die folgenden Tage las ich die Geschichte sowohl in der Berliner Morgenpost als auch in der Welt und anderen gern gelesenen Zeitungen.
Alle schrieben über den Arzt, das arme Kind und seine Eltern. Die Geschichte erhitzte unwahrscheinlich viele Gemüter aus den verschiedensten Gründen. Die Homöopathiebefürworter hielten das Ganze für eine Verschwörungskampagne und ließen zum Beweis der Unmöglichkeit Zucker in ihrer Hand schmelzen. Die Homöopathiegegner hätten gerne ein Bild des schmerzgeplagten Mädchens zu Felde geführt. Fremdenfeindliche Gruppierungen sahen dies als Beispiel eigener geistiger Überlegenheit und die Gegengruppierung als Beweis fehlender Chancengleichheit.
Ich persönlich war einfach nur erleichtert, dass es damals noch kein Twitter gab. Damals, als ich noch Studentin war. Damals, als Dr. C. Luebbers auch noch studierte. Damals, als ich noch die Haare zu einem Dutt trug, dazu kleine Perlenstecker in den Ohrlöchern und inbrünstig autoritätsgläubig war.
Damals, als ich noch studierte ...
Das „Damals“ war, als ich zutiefst gedemütigt nachts auf einem HNO-Stuhl in einer Rettungsstelle saß, während in rascher Folge die Augenpaare hinter dem offenem Türspalt wechselten, um im Kuriositätenkabinett die Studentin mit den Verbrennungen zweiten Grades zu beäugen.
Schuld war nicht der Dutt oder der kleine Perlenstecker. Schuld war einzig und allein meine Obrigkeitshörigkeit, die durch den Vater meiner Mitbewohnerin und Hannibal verkörpert wurde. Jawohl, Hannibal. Der Hannibal mit den Elefanten und den Alpen. Bei Hannibals Alpenüberquerung „stieß dieser auf Schnee beim Abstieg“, so heißt es. Wen wundert es da, dass einer von seinen Weggefährten Ohrenschmerzen beklagte.
Mich überraschte es jedenfalls nicht, als meine Mitbewohnerin mir diese Geschichte erzählte, während die Flamme des Feuerzeugs ihr Gesicht erhellte. Als Studentin im Vorklinischen Abschnitt hatte ich schon einige Grundzüge der Medizin kennengelernt und konnte nur zustimmend nicken. Nasskaltes Wetter, laufende Nase, Tubenkatarrh, Otitis – was sonst.
Hannibal, die Elefanten und der Honig
Während meine Studienkollegin den Honig in einem Teelöffel über besagtem Feuerzeug erwärmte, stellte ich mir also diesen geschichtsträchtigen Moment bildlich vor und hörte auch bereits in weiter Ferne das Trompeten der Elefantenherden. Erst als ich aus meiner kurzen Präsynkope wieder bei vollem Bewusstsein war, wurde mir klar, dass es eigentlich mein eigener gellender Schrei gewesen war und kein Trompeten. Was war also schiefgegangen?
Mehrere Dinge. Zum einen wurde die wichtigste Ohr-Regel verletzt: Nichts, das kleiner als der Ellenbogen ist, darf ins Ohr gesteckt werden. Zum anderen hätte man genauestens prüfen müssen, inwieweit es sich bei unserem Vorhaben um Fake News handelt. Diese gab es nämlich schon immer, nur waren sie früher weniger professionell in Hörensagen, Anekdoten, Aufschneidereien oder in Gerüchte verpackt. Nur wenigen Großen gelang eine generationsübergreifende Verbreitung.
Das Leichengift und der Wandersplitter
Die Legende über das Leichengift bereitet mir bis heute ein mulmiges Gefühl. Immer wenn ich gedankenverloren ein Haar- oder Gummiband um meinen Finger wickel und der Moment kommt, in dem mir bewusst wird, was ich da gerade gemacht habe, stehe ich vor dem unlösbaren Problem, dass ich nun entweder das Band nie mehr löse und mir der Finger kurz darauf abzufallen droht oder ich das Gummi löse, wodurch das Leichengift in meinen Körper schießen und mich binnen Sekunden umbringen würde.
Oder was ist mit dem Wandersplitter? Splitter aus Holz oder anderem Material, die einen einfach so aus der Mitte des Lebens reißen, nur weil man ihn übersehen hat oder zu faul war, den Splitter zu entfernen? Genau diese Splitter wandern über Jahre oder Jahrzehnte bis zum Herzen und machen irgendwas mittels einem unbekanntem Mechanismus damit. Am Ende steht auf jeden Fall der Tod. Solche Mythen sind derart hartnäckig, dass selbst die Zeit einen Artikel dazu verfasste.
Und mein Gehörgang?
Aber wie ging es nun weiter? Während ich mit meiner Mitbewohnerin diskutierte, ob Hannibal heißen, warmen oder einfach nur nicht eiskalten Honig meinte, hatte dieser (der Honig, nicht Hannibal) die Chance, etwas abzukühlen. Das und die Tatsache, dass mein Überlebensinstinkt in letzter Minute dann doch einsetzte und ich meinen Kopf wegdrehte, während meine Mitbewohnerin weiterhin versuchte, den warmen Honig in mein Ohr fließen zu lassen, rettete mich wohl.
Nachdem sie und ihr Freund mich in die Notaufnahme gefahren hatten, sprachen wir nie wieder über diese Geschichte. Bis heute.
Die Geschichte hinter meiner Geschichte ist folgende: Auch zwei bodenständige, studierte Menschen mit ganz gutem Abitur können manchmal etwas total falsch verstehen und wider jeglicher Intuition handeln.
Wer im Glashaus sitzt, kann viele Saugnäpfe aufhängen, sollte aber nicht damit werfen.