Nicht nur die Abreise, auch die Ankunft wirft viele Fragen auf ... aber es tut immer gut, zu wissen, dass auch andere dieselben Fragen haben. Und interessante Antworten.
Irgendwo über dem Indischen Ozean, glaube ich, fing es langsam an, mir zu dämmern, auf was ich mich da eingelassen hatte. In dem ganzen Stress mit den Papieren und Umzug in den letzten Wochen hatte ich einfach zu viel zu tun gehabt, um mir über die, sagen wir, emotionale Komponente Gedanken zu machen. Vielleicht gar nicht so schlecht, wenn man einen allzu tränenreichen Abschied vermeiden will, aber im Nachhinein rächt es sich, wenn das Pendel nach dem ersten Durchatmen in die andere Richtung schwingt und einem die ganzen Zweifel, die man mühsam niedergerungen hatte, über dem Kopf zusammen schlagen. Es sei an dieser Stelle kurz darauf hingewiesen, dass sowohl Turkish Airlines als auch Ibis Hotels keine durchschnupfsicheren Taschentücher bereitstellen.
„Sie gehen weg? Aber was machen wir denn dann ...?“
Ein paar Mal musste ich auch während der Vorbereitungen schon schlucken, zum Beispiel als mir meine Kollegen in der Praxis ein Abschiedsgeschenk überreichten oder als ich meiner neuen Kollegin mein Büro übergab. Irgendwie war mir nicht ganz bewusst gewesen, dass meine Entscheidung auch andere betreffen würde. Spätestens, als die ersten Patienten mich mit großen Augen darauf ansprachen (nichts bleibt in einer Kleinstadt lange geheim) und Sätze fielen wie „Sie gehen weg? Aber was machen wir denn dann, wir haben uns doch gerade so an Sie gewöhnt?“ fühlte ich mich wie ein mieser Verräter, egal wie oft ich ihnen und mir versicherte, dass die neuen Kolleginnen die personifizierte Freundlichkeit und Kompetenz seien.*
Gängige Vorurteile gegen die nächste Generation
Unter den Kollegen waren die Reaktionen gemischt. Während die einen mein Projekt gespannt verfolgten, bilde ich mir ein, vor allem auf der Seite der älteren Kollegen auch so etwas wie Missbilligung gespürt zu haben. Möglicherweise liegt es einfach nur daran, dass man nicht glücklich war, eine der mühsam in die Region gelockten Kolleginnen wieder zu verlieren, schließlich hat auch Belgien mit Allgemeinmedizinermangel in ländlichen Regionen zu kämpfen. Trotzdem werde ich den Eindruck nicht los, dass sich einige im gängigen Vorurteil gegen die nächste Generation bestätigt fühlten: die jungen Leute (und besonders die jungen Frauen) wollen einfach nicht mehr arbeiten, wie sich das gehört. Und sie haben Recht! Viele versuchen, sich in Praxisgemeinschaften zu organisieren, um geregelte Arbeitszeiten, weniger Dienste und mehr Freizeit zu schaffen. Mit anderen Worten, sie sind faul. Und verantwortungslos. Im Großen und Ganzen Weicheier, nicht mehr bereit, sich den hehren Idealen unseres Berufes zu opfern. Und sowieso nur hinter dem Geld her.
Dass man in der Praxisgemeinschaft weniger verdient als mit der eigenen Praxis, dass ein ausgeruhter und ausgeglichener Arzt möglicherweise bessere Resultate bringt als jemand, der zum dritten Mal diese Woche nachts die Rufbereitschaft gemacht hat, und dass es durchaus nicht verantwortungslos ist, wenn man Patienten mit einer verständlichen Akte und vielleicht einer kurzen Übergabe auch mal Kollegen überlässt, scheint noch nicht ins Bewusstsein übergegangen. Ärzte sind weiterhin eine der Berufsgruppen mit dem höchsten Risiko für Depressionen, Burnout, Alkoholismus und Suizid.
Anders muss nicht schlechter sein
Ich will keinesfalls die Allgemeinmediziner der „alten Schule“ kritisieren. Ich bin immer wieder tief beeindruckt, wenn ich sehe, was die Kollegen geleistet haben und weiter leisten. Aber nur, weil unsere Art zu arbeiten, anders ist, muss sie deshalb schlechter sein? Und muss man Kollegen, die sich anders entscheiden, deshalb unterschwellig ein schlechtes Gewissen machen?
Ich war gespannt, wie man anderswo mit dem Problem umgeht. Denn wenn Neuseeland so einen Aufwand betreibt, um Ärzte ins Land zu holen, wird man sie vermutlich auch brauchen.
Einführungsseminar in Wellington
Ebenso gespannt war ich auf die Kollegen: NZLocums veranstaltete für alle neuen Rekruten ein dreitägiges Einführungsseminar in Wellington. Die Kosten für Seminar und Unterbringung wurden komplett übernommen. Wer hatte sich sonst noch auf den Weg ans Ende der Welt gemacht, und warum?
Wir trafen uns im Versammlungsraum der Agentur in Wellington, alle mehr oder weniger übernächtigt. Einige waren erst in der Nacht gelandet, andere (wie ich) hatten noch mit dem Jetlag zu kämpfen oder waren (auch ich) ordentlich erkältet. Die anfängliche Befangenheit hielt dem Geiste der Verbrüderung über dem glücklicherweise reichlich zur Verfügung stehenden Kaffee aber nicht lange stand.
Wie üblich bei derartigen Anlässen wurden wir erst offiziell willkommen geheißen – mit der einen oder anderen Andeutung, wie froh man sei, dass es doch noch alle geschafft hätten. Offenbar war ich nicht die einzige, deren endgültige Zusage knapp geworden war. Dann hatten wir die Gelegenheit, uns vorzustellen. Richtig bekannt machten wir uns aber erst beim gemeinschaftlichen Mittagessen. Und natürlich stellten wir uns alle gegenseitig DIE Frage: „Warum bist DU hier?“
Jeder hatte seine eigene Antwort
Einige waren auf der Suche nach Abwechslung: Dough aus den USA, der gerade seine private Praxis verkauft hatte und hoffte, sich in einem ruhigeren Setting mehr seinem Hobby, dem Gitarre spielen und -bauen widmen zu können. Oder Richard aus Schottland, der sich langsam aus seiner Gemeinschaftspraxis zurückzog und einen Tapetenwechsel suchte. Theun und Morintje, junge Ärzte aus den Niederlanden, die das Stadtleben leid waren und hofften, mehr an die Luft zu kommen. Alex, Rob, Joshua, Sam und ich, einfach nur auf Abenteuer und neue Erfahrungen aus. Einige waren ohne Bindung, andere hatten Familie oder Partner zurückgelassen. Manche hatten längerfristige Pläne: Helen hatte die Allgemeinmedizin eigentlich aufgegeben und arbeitete als Palliativmedizinerin, hatte aber einen Neuseeländer geheiratet und beschlossen, ihm zu folgen. Willemijn hatte ihren Ehemann und ihre kleine Tochter gleich mitgebracht und hoffte, sich hier etwas aufbauen zu können. Amar, ursprünglich in Australien tätig, war nach Neuseeland gekommen, weil die hiesigen Visabestimmungen ihm erlaubten, seine Frau und Tochter aus Indien früher nachzuholen.
Und man gestand sich gegenseitig auch Zweifel ein. Letzten Endes hatte niemand eine Garantie, dass sich die großartige Idee nicht als Desaster herausstellen könnte, als finanzielles, professionelles oder beziehungstechnisches. Oder alles gleichzeitig. Auch wenn der Austausch darüber das nicht änderte, fühlte man sich doch weniger verloren.
So viele Geschichten
Wir würden nach den drei Tagen Seminar alle in mehr oder weniger entlegene Regionen Neuseelands geschickt werden und bis auf Helen, die in einer Praxis in der Heimatstadt ihres Mannes arbeiten würde, war noch keiner von uns vor Ort gewesen.
Trotzdem wurden natürlich E-Mail-Adressen und Telefonnummern getauscht und versprochen, in Kontakt zu bleiben und sich nach Möglichkeit zu besuchen.
* Natürlich waren auch weder Freunde noch Familie von der ganzen Sache sonderlich begeistert. Aber mit deren Empörung hatte ich gerechnet, auch wenn es das nicht einfacher macht.
Bildquelle (Außenseite): Martin Brochhaus, flickr