Zwei Tage, um alles zu lernen, was man als Arzt in Neuseeland wissen muss ... keine leichte Aufgabe!
NZLocums hatte uns für drei Tage zu einem umfangreichen und dicht gepackten Einführungsseminar geladen, das uns mit den wichtigsten Besonderheiten des Gesundheitssystems, den zentralen Behörden, mit denen wir in Kontakt kommen würden, und mit den gängigsten Arbeitsmethoden vertraut machen sollte.
Extrem schlecht vorbereitet
Alles war sehr professionell organisiert, aber ich fühlte mich extrem schlecht vorbereitet. Jacintha hatte mir in den letzten Tagen vor meiner Abreise tonnenweise Infomaterial zum Einlesen geschickt, und ich hatte nicht einmal ansatzweise die Zeit gehabt, alles durchzuarbeiten. Uns wurde unter anderem nahegelegt, die „interaktive“ Online-Einführung in das Computerprogramm, das von den meisten Praxen genutzt wird, zu nutzen, um uns damit vertraut zu machen. Ich hatte es sogar mehrfach versucht, war aber wegen der monotonen Computerstimme jedes Mal eingeschlafen und hatte es aufgegeben. Den anderen war es ähnlich ergangen.
Von Grundsicherung und Zusatzversicherungen
Das neuseeländische Gesundheitssystem wirkt auf den ersten Blick vertraut: ein öffentliches System, finanziert über Steuergelder. Die Gelder werden vom Ministery of Health auf die insgesamt 20 Distric Health Boards verteilt, regionale Gesundheitsbehörden, die die Verteilung auf die ihnen angehörigen Strukturen regelt (hauptsächlich Krankenhäuser). Jeder Einwohner Neuseelands hat dadurch Recht auf und (theoretisch) Zugang zu medizinischer Grundversorgung.
Allerdings deckt diese Grundsicherung viele Dinge nicht ab, die man (oder ich) für selbstverständlich gehalten hätte: Besuche beim Zahnarzt, Allgemeinmediziner oder bei niedergelassenen Spezialisten werden nicht erstattet und müssen entweder über eine private Zusatzversicherung abgedeckt werden, die durchaus erschwinglich ist, oder aus eigener Tasche bezahlen. Es gibt neben den über public funds finanzierten Gesundheitseinrichtungen eine ganze Reihe von privat geführten Kliniken, Einrichtungen und Anbietern. Von dem Versuch, nachzuvollziehen, wer was wie finanziert und welche Konsequenzen das für die Patienten hatte, bekamen wir kollektiv Kopfschmerzen.
Daneben gibt es noch ein paar sehr interessante Einrichtungen, die uns allen mehr oder weniger exotisch vorkamen:
ACC
Die ACC, oder Accident Compensation Corporation, übernimmt die Kosten bei Unfällen und finanziert sich aus speziellen Steuerabgaben, zum Teil über einen Teil des Einkommens, aber auch über Kraftstoff-, und Fahrzeugsteuer. Wer auch immer in Neuseeland einen Unfall hat, wird von der ACC aufgefangen, und die ACC zahlt für Behandlung und Rehabilitation, bis der Zustand vor dem Unfall wieder hergestellt oder zumindest keine Besserung mehr zu erwarten ist. Sie übernimmt auch einen großen Teil des Verdienstausfalls nach einem Unfall und sorgt für eine möglichst schnelle Wiedereingliederung in den Beruf. Und das sowohl bei fremd- als auch selbstverschuldeten Unfällen, selbst wenn der Unfall auf „beeing bloody stupid“ zurückzuführen ist, wie einer englischen Kollegin auf Nachfrage bestätigt wurde. Wir waren schwer beeindruckt.
PHARMAC
Die Pharmaceutical Management Agency ist eine Regierungseinrichtung, die ultimativ dafür verantwortlich ist, welche Medikamente auf dem neuseeländischen Markt zugelassen werden und welche davon zurückerstattet werden. Jedes Jahr verhandelt die PHARMAC ein umfangreiches Paket mit dem Ministery of Health darüber, für welche Medikamente das Budget Funding zulässt. Dazu werden natürlich auch lange Verhandlungen mit der Pharmaindustrie geführt, um den besten Preis einzuholen. In der Konsequenz gibt es in den gängigen Medikamentenklassen meistens nur ein komplett subventioniertes Medikament, für andere Medikamente der selben Klasse muss zugezahlt werden. Oder wenn man darauf besteht, müssen sie komplett aus dem Ausland eingeführt und selbst bezahlt werden.
Laut PHARMAC werden diese Entscheidungen aufgrund von EBM getroffen – aber natürlich innerhalb von einem fest definierten Budget. Uns wurde erklärt, dass die von der PHARMAC geleistete Vorarbeit uns als Verschreibern das Leben erheblich erleichtern würde, aber so ganz überzeugt waren wir nicht. Und tatsächlich hat PHARMAC ihre Schwachstellen, besonders wenn es um neue Medikamente, experimentelle Therapien oder seltene Krankheiten geht. Ich persönlich fragte mich, ob und wie diese Einrichtung meine Verschreibungsgewohnheiten wohl ändern würde.
Medical Protection Society
Die ACC übernimmt auch die Folgen von Behandlungsfehlern, weshalb es in Neuseeland nicht möglich ist, einen Arzt direkt auf Schadensersatz zu verklagen – auf den Gesichtern der US-amerikanischen Kollegen breitete sich ein Lächeln aus. Klagen über professionelle Fehler oder Fehlverhalten in der Ausübung des Berufs werden an den Medical Council herangetragen, der die Klagen prüft und darüber urteilt. Die MPS übernimmt hierbei die Seite der betroffenen Ärzte, wenn auch nicht kostenlos. Die direkte Einschreibung bei der MPS war einer der Programmunterpunkte im Seminar.
Es gab noch viele weitere Punkte, alle durchaus praktisch orientiert: einen Termin beim Medical Council, um die Originale unserer Diplome und deren Echtheit zu verifizieren. Und wieder sorgte mein deutscher Pass neben dem belgischen Diplom für Verwirrung. Hilfe beim Beantragen der Steuernummer, Besuch bei der Bank zum Eröffnen eines Kontos ... brav trabten wir unseren Koordinatoren kreuz und quer durch das Stadtzentrum hinterher.
Fasziniert und auch etwas beunruhigt
Dazu gab es noch ein paar praktische Einheiten. Eine diesmal tatsächlich interaktive Einführung in das Praxisprogramm MedTech32 und einen Reanimations-Workshop, der zwar nicht den erhofften Kompetenzzuwachs, aber einen durchaus interessanten Einblick in die Ausbildung und die verschiedenen Kompetenzstufen der Paramedics brachte. Fasziniert und vielleicht auch etwas beunruhigt hörten wir den Health and Safety Managern zu, die uns über korrektes Verhalten im Erdbebenfall belehrten und uns die Besonderheiten im Straßenverkehr aufmerksam machten.
Ausweichen! Außer beim Opossum
Ich hatte einen Mietwagen genommen, um von Auckland ins 600km entfernte Wellington zu kommen und schon etwas Erfahrung mit dem Linksverkehr gesammelt, aber uns wurde noch einmal nachdrücklich eingeschärft, auf andere Fahrer achtzugeben besonders im Stadtverkehr und an Kreuzungen. Es hieß: „Neuseeländer rechnen nicht immer mit anderen Verkehrsteilnehmern, die sind ja auch eher selten.“ Aber auch darauf, dass uns jederzeit etwas aus dem Tierreich vor den Wagen laufen kann, zu jeder Tageszeit. Wir wurden gebeten, nach Möglichkeit auszuweichen, es sei denn, es handele sich um ein Kaninchen oder ein Possum. Vor allem gegen die ursprünglich aus Australien zur Pelztierzucht eingeführten Opossums hegen die Neuseeländer eine tiefe Abneigung, da sich die eigentlich harmlosen Nagetiere hier zur ausgewachsenen Landplage entwickelt haben. Ironischerweise stehen die wuscheligen Nager in ihrer alten Heimat Australien mittlerweile unter Naturschutz.
Am letzten Tag stand zum Abschluss noch ein Besuch im Te Papa, dem Nationalmuseum auf dem Programm. NZLocums hatte eine private Führung für uns organisiert, und obwohl ich das Museum schon mehrfach besucht hatte, war die Führung durch die Geschichte Neuseelands, erzählt aus der Perspektive unseres Maori-Tourguides, ein ganz besonderes Erlebnis.
Kulturelle Fettnäpfchen
Während der Einführungsveranstaltung und auch in den Informationsbroschüren wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die Kultur der Maori vor allem im Norden noch sehr präsent ist und aktiv gelebt wird, und darum gebeten, sich dessen bewusst zu sein und darauf Rücksicht zu nehmen. Konkrete Hinweise, worauf man genau zu achten hatte, fehlten leider. Im Gespräch mit unserem Tourguide wurde mir schlagartig bewusst, wie wenig ich von dieser Kultur wusste und wie fremd sie auf mich als Europäer wirkte. Wissend, wie schwierig es schon bei vergleichsweise ähnlichen Kulturen und Religionen ist, nicht ins Fettnäpfchen zu treten, wurde mir sehr unbehaglich bei dem Gedanken, dass ich so gar nicht wusste, wie ich mich auf diese Volksgruppe einzustellen hatte.
Ich beschloss, dem ganzen mit größtmöglicher Offenheit und Vorsicht zu begegnen, und hoffte insgeheim, dass man mir Ausländer im Gegenzug etwas mehr Nachsicht entgegenbringen würde.
Dann kam der Abschied: die über die letzten Tage neu gewonnenen Freunde machten sich einer nach dem anderen zu ihren neuen Arbeitsstätten auf. Alle schwankten zwischen Euphorie und vager Sorge. Trotzdem, wir konnten es kaum erwarten.
Ein wenig Zeit hatte ich noch, um mir die Stadt anzusehen: Wellington ist mit seinen knapp 200.000 Einwohnern für eine Hauptstadt ungewohnt klein, aber macht die fehlenden Einwohner mit einer sehr entspannten Atmosphäre und einem breiten Kulturangebot wett. Die zahlreichen Cafes und der zur Flaniermeile ausgebaute alte Hafen im Stadtzentrum locken die Bewohner trotz der immer herrschenden straffen Brise nach draußen, und die Wasserqualität im Hafenbecken ist gut genug zum Schwimmen und Surfen.
Trotz der fehlenden Wolkenkratzer wirkt die Stadt wie ein kleines London in der Südsee.
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