In der Allgemeinmedizin, in der Gynäkologie oder in der Neurologie, es kann schnell passieren: Plötzlich sitzt ein Patient mit einer akuten Depression vor Ihnen. Weinend, verzweifelt oder getrieben und vorwurfsvoll, oft voller Angst. Häufig erleben Patienten ein absolutes „Getrenntsein“ von der Welt, die nicht mehr viel mit ihnen zu tun zu haben scheint.
Beim Arzt hingegen stellt sich nicht selten Ärger, Müdigkeit oder das Gefühl der Lähmung und Hilflosigkeit ein. Folgende sieben Dos sollen Ihnen Impulse geben, das Bestmögliche für Ihren Patienten zu tun.
Kurz zum Hintergrund:
Ätiologisch bedeutsam sind bekanntermaßen psychische, biologische und soziale Faktoren, die in ihrer Konstellation zum Ausbrechen einer depressiven Erkrankung führen oder nicht. Auf psychischer Ebene kann eine Depression verkürzt als die Erkrankung des Mangels und des Verlustes bezeichnet werden. Dies drückt sich bereits in der Symptomatik aus: Mangel an Freude, Verlust an Antrieb und Motivation, innere Leere usw.
Auch der Auslöser ist häufig ein realer oder auch nur phantasierter Verlust, der einen alten, meistens früher im Leben erworbenen emotionalen Mangel zum Dekompensieren bringt und zum Vollbild einer Depression führt. Beispiele für solche Schlüsselsituation sind etwal der Verlust der körperlichen Fitness (z. B. durch eine Krankheit), drohender oder erfolgter Verlust des Arbeitsplatzes, das Ende einer Partnerschaft, ein Schwinden der eigenen Leistungskraft oder Ähnliches.
Was tun, wenn ein depressiver Patient plötzlich vor Ihnen sitzt?
Trotz der großen Sogwirkung in die sich entfaltende bleierne Schwere, sollte unbedingt die somatische Seite gründlich abgeklärt werden: Anämie? Schilddrüse? Infekte? Autoimmunkrankheiten? Neoplasmen? Demenz? Parkinson? KHK? ... Auch pharmakologische Ursachen sind häufig: Antihypertensiva, Sedativa, Antiepileptika, Analgetika, Hormone, Chemotherapeutika, Inferferon (!) ...
Fragen Sie nach Suchtmitteln, denn die Komorbidität mit Suchterkrankungen wird mit bis zu 60 Prozent erhoben. Hier lohnt es sich aktiv und wiederholt nachzufragen. Ganz explizit nicht, um eine mögliche „Selbsttherapie“ des Patienten zu verurteilen, sondern um die notwendigen Schritte in eine Depressionsbehandlung einzuleiten, dazu würde dann ggf. eine Suchtberatung gehören.
Die S3-Leitlinie Depression weist darauf hin, dass Patienten häufig nicht über typische depressive Kernsymptome berichten. Stattdessen schildern sie unspezifische Schlafstörungen, Schmerzen, Krankheitsgefühl, Appetitminderung sowie diverse Körperbeschwerden. Hier sollte unbedingt aktiv exploriert werden, eine schnelle Methode dafür wäre der Zwei-Fragen-Test.
Aufklärung ist ganz entscheidend. Eine riesige Entlastung bereitet es den Patienten häufig, wenn man die Verdachtsdiagnose mitteilt: „Bei Ihnen gehe ich vom Vorliegen einer Depression aus.“ Man kann dazu erklären, dass es sich um eine häufige Erkrankung handelt, dass sie unfassbar belastend und alles andere als eine vorübergehende Traurigkeit oder „schlechte Stimmung“ ist. Dass sie aber gleichzeitig heute gut behandelbar ist und „ich als Ihr Arzt werde jetzt sofort mit Ihnen zusammen beginnen, Maßnahmen ergreifen, damit wir Ihnen Linderung verschaffen können“. Ebenso wird es oft als hilfreich erlebt, über weitere mögliche Symptome aufgeklärt zu werden.
Eine erste Interventionen in der Grundversorgung könnte es sein, Zuversicht zu vermitteln („Ich kann Ihnen sagen, dass es Ihnen auf jeden Fall wieder besser gehen wird“), dem Patienten Entscheidungen abzunehmen („Ich schreibe Sie krank und möchte Sie in sieben Tagen wiedersehen“), positive Aktivitäten zu verordnen, konkrete Hilfe anzubieten („Bezüglich Ihrer Unruhe kann ich Sie mit einem schlaffördernden Medikament unterstützen“). Es ist häufig ein direktives Vorgehen nötig, um die Mitarbeit des Patienten zu erreichen. Dont's sind Ermahnungen, Aggressionen persönlich nehmen, intransparentes Vorgehen, Bagatellisieren der Beschwerden und „psychologisieren“ der Beschwerden.
Schließlich sollte das Suizidrisiko unbedingt im Auge behalten werden, das heißt aktives, offenes Nachfragen: „Denken Sie daran, sich das Leben zu nehmen? Haben sie es schonmal versucht? Haben Sie Vorbereitungen getroffen? Was hat Sie bisher davon abgehalten (Ressourcen herausarbeiten)?“ Das konkrete Sprechen über mögliche Todeswünsche erhöht das Suizidrisiko nicht. Alle Formen suizidaler Gedanken sind ernst zu nehmen. Maßnahmen können je nach Schwere und Phase der Suizidalität ein klares Kontaktangebot mit konkreten Anschlussterminen, eine Antisuizidvereinbarung, ggf. stationär-psychiatrische oder -psychosomatische Akutbehandlung sowie medikamentöse Maßnahmen sein. Als klinisches Instrument zur Einschätzung der Suizidalität empfiehlt sich auch der „Fragenkatalog nach Pöldinger“, der auch fest in der Praxissoftware hinterlegt werden – hat den Vorteil, dass man gleichzeitig gründlich dokumentiert hat.
Die Weiterbehandlung kann in Absprache mit dem Patienten parallel zur Grundversorgung initiiert werden: ambulante und stationäre Angebote aus den Fachgebieten Psychosomatische Medizin und Psychotherapie oder Psychiatrie und Psychotherapie oder alle anderen Fachgebiete, wenn die Qualifikation Psychosomatische Grundversorgung oder die Zusatzbezeichnung Psychotherapie vorhanden ist. Weiterführend kann eine ambulante Psychotherapie indiziert sein. Medikamentös können Antidepressiva, Neuroleptika und Tranquilizer zum Einsatz kommen. Zu unterscheiden ist die akute Medikation zur schnellen Entlastung von schweren Symptomen (ggf. mit Suizidalität) und eine etwaige längerfristig angelegte antidepressive Pharmakotherapie. Eine spezifische Behandlung der Depression sollte übrigens auch erfolgen, wenn somatische oder pharmakologische Befunde (mit)ursächlich sind.
Zusammenfassung: Depressionsbehandlung in der ärztlichen Grundversorgung heißt schneller Beginn, realistisches Ziel, umschriebene Inhalte, pragmatisches und aktives Vorgehen unter Fokussierung auf eine unterstützende, tragfähige Arzt-Patienten-Beziehung.
Zuerst erschienen auf: www.psychosomatikum.com