Ich glaube, alles hat mit Klosterfrau Melissengeist angefangen. Wie erklärt man einer rüstigen Rentnerin, dass ihre Entzugssymptomatik dem täglichen tiefen Blick in diese beliebte und bekannte Naturarznei geschuldet ist?
Mehrzweckheilmittel
„Kannst du ruhig mal nehmen“, heißt es auf Kaffefahrten, Tanztees und anderen Aktivitäten für Senioren. Dieses Mehrzweckheilmittel bedient in einer Flasche alle gängigen Probleme des Alters, vom schmerzgeplagten Rücken, den man damit einreiben kann, bis hin zur senilen Bettflucht, der man mit einem Schlückchen aus der Flasche entgegenwirken kann. Hinzu kommt noch der religiöse Aspekt durch die Vorstellung einer trinkenden und Kräutermixturen anrührenden Nonne.
Der Inhalt aus Heilpflanzen bei schier unbegrenzten Einsatzmöglichkeiten verleitet den einen oder anderen vom Schlückchen zum Schluck, vom Tässchen zur Tasse, schlimmstenfalls bis hin zum tiefen Blick ins Flascheninnere. Wäre ja nicht so schlimm, wenn das sanfte und natürliche einschlummern nicht dem Alkoholgehalt von 79 Volumenprozent.
Schlummertrunk
„Kannst Du ruhig mal nehmen“, sagte auch der Nachbar meiner Großtante unbekannten Verwandtschaftsgrades, als er ihr die Tasse Tee reichte. Sie war eine feine ältere Dame, die auch nichts mit Chemie am Hut hatte und lieber auf die Kraft der Natur vertraute. Die unruhigen Beine und die damit verbundenen Durchschlafprobleme hörten auch rasch auf, nachdem Sie nun ihren Schlummertrunk gefunden hatte.
In den Wintermonaten stellte Sie immer eine Verschlechterung der initialen Beschwerden fest. Aus einem Restless-Leg-Syndrom wurden Krämpfe und Schweißausbrüche. Die namenlose Krankheit schien also auf dem Vormarsch zu sein, ohne dass liebgewonnene Tee ihr hätte Linderung verschaffen können, da die Blühten dem harten Frost nicht standhielten. Erst mit dem Erblühen der ersten Schlafmohnknospen, aus denen Sie einen kräftigen Sud zauberte, beendeten Ihre Beschwerden für gewöhnlich.
Wie immer eine Frage der Größe
Bei diesen ganzen Tees stolpert man eh immer über recht ungenaue Angaben. „Täglich eine Tasse“, heißt es da. Ist damit das zarte Porzellan meiner Großmutter oder mein „Ich brauche dringend Kaffee“–Pott gemeint?
Ein klassisches Beispiel ist der Himbeerblättertee. Wenn man die Empfehlungen aus dem Internet außer acht lässt, muss man zur Wehenförderung schon einen ganzen Liter davon trinken, wobei dieser 24 Stunden gezogen sein muß. Danach ist dieser aber derart bitter, dass man sich beim Trinken schwallartig übergibt. Blöd nur, dass es unter korrekter Anwendung zu atonischen Nachblutungen kommen kann.
Was wirkt, hat auch Nebenwirkungen und was viel wirkt, hat viele Nebenwirkungen. Eine Magenblutung unter Acetylsalicylsäure ist nicht der praktischen Verpackung als Tablette geschuldet, sondern dem Inhaltsstoff, der auch in ähnlicher Form im Weidenrindetee zu finden ist. Darüber muss man sich im Klaren sein.
Holzwurm-Nuggets
Jamie Oliver hatte mal versucht, Kindern den Vorteil selbstgemachter Chickennuggets schmackhaft zu machen, indem er sprichwörtlich ein Huhn mit Fuß und Schnabel pürierte. So wollte er aufzeigen, was so in den fertigen Teilchen einiger Fastfoodketten zu finden ist. Die undankbaren Wesen verschmähten allerdings seine kleinen Filetstücke, da die Assoziation „Fastfoodkette = toll“ schon gespeichert war.
Bei Tabletten, die den Wirkstoff einer Pflanze in reiner Form in sich tragen, ist es ähnlich. Da wurde auf Schnabel und Füße zugunsten des Filets verzichtet (nur noch die reine Acetylsalicylsäure ohne Holzwürmer) und dennoch wirkt es nicht so charmant wie Kräuter, die ganz natürlich auf Wiesen wachsen.
Vitaminbomben leicht gemacht
Womit die Natur ganz klar im Vorteil ist, sind Lebensmittel, die eine Verpackung für Vitamine darstellen. Es ist quasi unmöglich, eine Hypervitaminose (Überdosis an Vitaminen) mit Obst und Gemüse zu erzielen. Vitamine brauchen wir – und insbesondere Kinder – für ein gesundes Wachstum und ein starkes Immunsystem.
Offenbar hatte aber niemand damit gerechnet, dass wir irgendwann Vitamine in Nahrungsergänzungsmittel und Tabletten verpacken können. Ansonsten wäre rasch der Fehler in unserer Programmierung aufgefallen, dass ein Übermaß an beispielsweise Vitamin A und B von akuten Vergiftungserscheinungen wie Nierenversagen, hohem Blutdruck, Veränderung an Leber und Milz bis hin zu chronischen Vergiftungserscheinungen wie Krebs und dem finalen Ende führen kann.
„Kannst Du ruhig mal nehmen“ sollte schleunigst durch „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“ ersetzt werden.
Nachtrag: Da ich über den groben Umgangston hier sehr erschrocken bin und nicht mehr mit Frauke Petry verglichen werden möchte, hier eine Anmerkung und Korrektur meines Textes: Meine Intention ist es nicht, wissenschaftliche Beiträge zu schreiben. Ich schreibe Geschichten, die in erster Linie unterhaltsam eine Botschaft vermitteln sollen und benutzte dafür Anekdoten aus meinem Leben. Die Botschaft dieses Artikels lautet nicht "Phytotherapie ist doof", auch nicht: "Pharmakokinetik von Weidenrinde". Vielmehr lautet die Botschaft "was wirkt, hat auch Nebenwirkungen", also bitte vorher jemanden fragen anstatt darauf zu vertrauen, dass es nicht schädlich sein kann, da es sich um ein pflanzliches Präparat handelt. Eine einfache Botschaft bedarf manchmal einfacher Worte, dass auch jeder sie versteht. Wer speziell an der Wahrheit über Weidenrinde interessiert ist und dass diese nun Salicin (nicht Acetylsalicinsäure) enthält, die später zu Salicylsäure wird, für den habe ich diese Dissertation dazu gefunden.
Bildquelle (Außenseite): J E Theriot, flickr