Die Zahl der Patienten, die vorinformiert eine Praxis aufsuchen, steigt. Ärzte sehen dies kritisch, da Patienten nach der Recherche im Internet mitunter selbst die Medikamentendosis verändern. Patienten wiederum wünschen sich von ihrem Arzt Hilfe bei der Suche im Netz.
Sei es Google oder eine der vielen anderen Suchmaschinen – fast jeder Patient macht sich im Internet „schlau“, bevor er den Arzt konsultiert. Nach Angabe des Statistische Bundesamtes (Destatis) suchten 40 Millionen Menschen (67 % der Internetnutzer ab 10 Jahre) im Jahr 2015 online nach Informationen zum Thema Gesundheit. Eine Befragung unter Ärzten zeigte, dass sie diese Art der Informationsbeschaffung durch ihre Patienten kritisch sehen. Andererseits zeigte eine andere Befragung unter Patienten, dass sie sich bei der Internetrecherche Unterstützung durch ihren Arzt wünschen. So würden sie gerne Medikamenten-Apps nutzen, wenn der Arzt etwas empfiehlt. Wie können also Arzt und Patient von Dr. Google profitieren?
Der Internet-Doktor hat viele Gesichter: Ministerien, Krankenkassen, Zeitschriften, Pharmafirmen, Arztpraxen bis hin zu Selbsthilfegruppen und Privatpersonen – alle stellen Informationen rund um das Thema Gesundheit bereit. Die zunehmende Bedeutung des Internets ist abzulesen an der Anzahl verfügbarer Gesundheitsportale (8.000), an dem sich rasant entwickelnden Markt rund um Gesundheits-Apps, aber auch an den diversen Studien zum Thema. Der App-Markt mit seinen Chancen und Risiken für die Nutzer wurde z.B. in der vom Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebenen Studie „Charismha“ untersucht. Anlässlich der Vorstellung der Studienergebnisse bezifferte Bundesgesundheitsminister Gröhe die Zahl verfügbarer Apps im April 2016 mit 100.000.
Die kurze Antwort lautet leider: „Selten gut.“. Hinsichtlich der Qualität gibt es eine riesige Bandbreite. Welche Informationen bereit gestellt werden, ist oft von Interessen geleitet. Empfehlenswert ist die gesamte Lektüre des Info-Kompasses von der unseco. „Fall 9: Gesundheitsinformationen“ (S. 75 ff) befasst sich mit unserem Thema. Der Info-Kompass warnt unter anderem vor geschickt aufgemachten Werbeseiten von Pharmaherstellern und nennt exemplarisch die neutral wirkende Seite „kopfschmerzen.de“, die sich bei näherem Hinsehen als Werbeseite der Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG entpuppt. Vom Grundsatz her schlecht bewertet werden Chats und Foren (Info-Kompass, Seite 77). Hier sind vornehmlich ungeprüfte Informationen von Patienten und medizinische Laien zu lesen. Oft seien Foren-Geschichten frei erfunden. Mal aus „Spaß“, manchmal auch, weil – so der Info-Kompass – bezahlte PR-Profis der Pharmaindustrie (sogenannte „U-Boot-Patienten“) den Absatz bestimmter Medikamente fördern wollten. Hilfreich für die Bewertung eines Portals ist laut Info-Kompass das Qualitätslogo „Aktionsforum Gesundheitsinformationssystem“ (afgis e.V.). Dieses Logo erhalten Seiten, die Inhalte und Werbung in ihrem Angebot deutlich trennen, den Anbieter sichtbar machen und die den Zweck, die Quellen und die Zielgruppe benennen. Die Schweizer Stiftung Health On the Net (HON) überprüft Webseiten bzw. die Autoren darauf, ob sie sachverständig sind, ihre Quellen angeben sowie über Vor- und Nachteile von Therapien berichten.
Das Surfverhalten in Sachen Gesundheit wird seit 2010 alljährlich vom EPatient Survey untersucht – eine Online-Befragung im deutschsprachigen Raum mit wechselnden Fragestellungen. Der Survey befasste sich 2015 mit dem Thema „Die Internetnutzung von Patienten und deren Auswirkungen auf ihre Therapie und den Gesundheitsmarkt“; 2016 lautete der Titel „Patient im Netz“ Nach Gesundheitsinformationen suchten laut EPatient-Survey 2016 oft auch ältere Personen (Durchschnittsalter 59 Jahre) und solche, die über eine bessere Bildung verfügen. Die Geschlechterverteilung sei annähernd ausgeglichen, Frauen dominieren mit 54 % nur leicht. Problematisch scheint das Internet besonders für Menschen, die ängstlich motiviert im Web surfen. Hypochondrie beschreibt die ausgeprägte Angst von Menschen, eine ernsthafte Krankheit zu haben, ohne dass entsprechende Befunde gesichert werden können. Zusammengesetzt aus den Wörtern „Cyber“ und „Chondrie“ wurde der Begriff der „Cyberchondrie“ geprägt. Der Begriff beschreibt die pathologische Angst vor ernsten Krankheiten, die durch die Kenntnisnahme von Webinhalten verursacht oder verstärkt wird. In dieser Personengruppe sind nach Eichenberg et al. (Christiane Eichenberg, Carolin Wolters, Cyberchondrie – ein modernes Syndrom? In NeuroTransmitter, 2013, Seite 24 ff) Chats und Foren als Informationsquelle mit Abstand am beliebtesten. Das bedeutet leider, dass gerade Patienten, die durch die Internetrecherche besonders gefährdet sind, durch gute Seiten eher schlecht erreicht werden.
Die Menschen suchen zu Gesundheitsthemen nach allem denkbaren. Die private Krankenversicherung Central stellte im September 2015 ihre Studie „Praxis Dr. Internet“ vor. Anhand der unter Google in der Zeit von November 2013 bis Oktober 2014 eingegebenen Suchbegriffe wurde geschaut, wonach die Menschen im Netz suchen. Absoluter Spitzenreiter war die Schilddrüsenvergrößerung, gefolgt von Diabetes und Hämorrhoiden. Die Symptome Durchfall und Kopfschmerzen gehörten ebenfalls zu den 10 meistgesuchten Begriffen. Der EPatient Survey 2016 (aaO) erfuhr, dass 43 % der Befragten Medikamenten- und Medikamenten-Verträglichkeits-Checks nutzten oder sich mit Hilfe von Apps bei der regelmäßigen Einnahme der Medikamente unterstützten ließen. Bedenklich ist, dass ein Teil der Leute nach der Internetrecherche auch die Dosierung selber veränderte. Zunehmender Beliebtheit erfreuen sich auch Coaching-Apps, die Menschen helfen, mit ihrer Erkrankung im Alltag umzugehen. Dr. Google hat den Vorteil, jederzeit verfügbar zu sein, unabhängig von Praxis-Öffnungszeiten und Terminvergaben. Manchmal wird er auch im Nachgang zu einem Arztbesuch befragt, wenn die Erklärung des Arztes nicht verstanden wurde. Auch wird er gern als Zweitmeinungs-„Arzt“ befragt. Das Filtern, wie seriös und fundiert die diversen Meinungen sind, bleibt dem User selber überlassen, es sei denn, er bespricht die Internetergebnisse im Nachgang mit seinem Arzt. Ein weiterer Vorteil des Netzes ist die Anonymität. Hier traut sich manch einer eher, das eine oder andere intimere Problem anzusprechen. Je nachdem um welches gesundheitliche Problem es sich handelt, wird das persönliche Gespräch auch schon mal als unangenehm erlebt.
Viele Ärzte sehen diese Art der Informationsbeschaffung durch ihre Patienten kritisch. So jedenfalls das Ergebnis einer Befragung des Gesundheitsmonitors (Bertelsmann und BARMER GEK) am Ende des letzten Jahres. Befragt wurden 804 niedergelassene Ärzte zu ihren Erfahrungen und ihrem Umgang mit informierten Patienten. Fast alle Ärzte gaben an, dass die Zahl derer steigt, die vorinformiert ihre Praxis aufsuchen. Immerhin fast jeder zweite Arzt weist nach dem Gesundheitsmonitor seine Patienten auf qualitativ gute Internetseiten hin oder sucht gelegentlich sogar selbst für seine Patienten nach geeigneten Informationen. Weit über die Hälfte der Ärzte sehen sowohl das Arzt-Patienten-Verhältnis als auch die Compliance durch die Gesundheitsportale des Internet beeinflusst – mal positiv, mal negativ. Der EPatient-Survey 2015 bestätigte die in internationalen Publikationen veröffentlichte Aussage, dass Gesundheits-Apps die medizinische und medikamentöse Therapie optimieren können. Fast die Hälfte der Befragten gab an, die Anweisungen ihres Arztes zu ihren Medikamenten aufgrund von Informationen aus dem Netz besser zu verstehen und zu befolgen. Knapp 40 % der User gibt an, das Internet helfe ihnen im Alltag und im Umgang mit ihrer Erkrankung, und zwar seelisch, beruflich und praktisch. Dass die App die regelmäßige Medikamenteneinnahme deutlich verbessere, gibt jeder dritte Anwender an. Wie Ärzte die Recherchen ihrer Patienten beurteilten, hängt nach Gesundheitsmonitor von zwei zentralen Faktoren ab: Bildungsstand des Patienten und Offenheit des Arztes gegenüber den Internetangeboten. Ärzte, die mehr geringer qualifizierte Patienten behandeln, bewerten deren Suche nach Internetinformationen problematisch. Die Patienten würden verunsichert und kämen oft mit der Sorge um eine schwerwiegende Erkrankung in die Praxis. Das Vertrauen in den Arzt werde durch die Art der Vorinformation beeinträchtigt. Andererseits bewerten Ärzte die Recherchetätigkeiten grundsätzlich positiver, wenn sie sich in den Onlineangeboten für Patienten auskennen, oder schon an einer Fortbildung zum Thema „Patienteninformation“ teilgenommen haben.
Ärzte, die ihre Patienten bei Internetrecherchen unterstützen, erfüllen den Wunsch der suchenden Patienten. Nach einer EPatient-Befragung wünschen sich die meisten Nutzer des digitalen Gesundheitsmarktes Ärzte und Krankenkassen, die Orientierungshilfen geben. So würden sie Medikamenten-Apps weit eher Vertrauen schenken, wenn sie diese vom Arzt oder der Krankenkasse erhalten hätten, als wenn sie sich diese selber bei Google oder aus dem App-Store gesucht hätten. Groß ist laut dem EPatient-Survey auch das Interesse der Patienten an Online-Terminvergabe, digitalen Gesundheitsakten und App-gestützter Nachsorge. (Die datenschutzrechtliche Problematik dahinter ist ein anderes Thema.) Immerhin 16 % würden solche Hilfen im Anschluss an Klinik- und Reha-Aufenthalte in Anspruch nehmen wollen, um den Behandlungserfolg zu sichern. Insgesamt kann festgestellt werden, dass bei der Gegenüberstellung von Dr. Google und dem Arzt aus Fleisch und Blut Welten aufeinander treffen. Während der reale Arzt eingebettet ist in ein hochkomplexes und durchstrukturiertes (überstrukturiertes?) Gesundheitssystem, agiert Dr. Google in einem anarchistisch funktionierendem Umfeld. Die Konfrontation mit dieser neuen Wirklichkeit müssen unser Gesundheitssystem und die darin arbeitenden Leistungserbringer noch verarbeiten. Die passende Antwort ist noch nicht gefunden.