Die „Entlohnung“ für meine Tätigkeit als Psychiater ist nicht nur finanzieller Natur.
Herr A. geht auf die 80 zu. Ich kenne ihn als Patienten schon seit Ende der 1990er Jahre.
Ohne jeden Zweifel leidet Herr A. an einer Schizophrenie. Aber „leiden“ ist eben nicht der richtige Ausdruck. Er lebt ganz in seinem Wahn, steht unter dem Einfluss seiner Halluzinationen, die sich als Stimmenhören und leibliche Trugwahrnehmungen zeigen.
Aber die Inhalte seines psychotischen Erlebens sind absolut positiv! Ohne auf Einzelheiten bei Herrn A. einzugehen: Es gibt hin und wieder Wahnsysteme, die dem Patienten durchaus ein Wohlgefühl und ein „inhaltsreiches“, weil sehr spannendes Leben bescheren. Zwar ist das die absolute Ausnahme, aber einige wenige Patienten mit dieser Konstellation kenne ich.
Mit Medikamenten bleibt die Stimmung positiv
Das Ganze funktioniert aber nur mit einer Einschränkung: So lange Herr A. seine Medikamente nimmt (in einer Mini-Dosis), hält der positive Aspekt an. Wenn er sie aber absetzt, kippt die ganze Sache.
Wir haben das mittlerweile schon einige Male praktiziert. Es geht ihm gut, er will keine Pillen mehr nehmen, ich rate ab, ich erinnere ihn daran, wie es beim letzten Mal lief – vergeblich! Einsicht in seine Erkrankung hat er ohnehin nicht, lässt sich aber normalerweise auf die Behandlung ein.
Diese so genannte „doppelte Buchführung“ sieht so aus, dass Herr A. zwar von seinen Wahninhalten voll überzeugt ist, aber doch auch seine Besuche beim Psychiater wahrnimmt und auch die Pillen schluckt.
Ein Teil von ihm lebt im Wahn, ein anderer Teil akzeptiert, dass er Patient in einer psychiatrischen Praxis ist. Eine typische Konstellation und ein weiterer Beleg dafür, dass die Gesamtpersönlichkeit bei der Schizophrenie tatsächlich in ein Nebeneinander verschiedener Realitäten „gespalten“ sein kann.
Drohte nun eine erneute Zwangseinweisung?
Nun gut, bei Herrn A. passierte das, was immer passiert. Nach einigen Wochen ohne Medikamente veränderte sich allmählich seine psychotische Welt aus Glück und Freude. Fremde auf der Straße erschienen ihm als bedrohlich. Meldungen im TV bezogen sich auf ihn. Aber nicht im Guten, sondern im Schlechten. Er dachte, er sei Schuld an der Krise in der Ukraine, das geheimnisvolle Verschwinden des Flugzeuges MH370 werde ihm vom amerikanischen Geheimdienst angelastet, kurzum: Seine Liquidation stehe kurz bevor.
Bereits mehrfach musste ich Herrn A. in der Vergangenheit zwangsweise in der Klinik unterbringen, nachdem er äußerst gewalttätige Pläne geschmiedet hatte und diese auch in die Tat umsetzen wollte.
Seine „doppelte Buchführung“ führte ihn jedoch auch jetzt immer wieder in meine Sprechstunde. Er litt sehr unter seiner Angst, war aber trotz eindringlicher Aufforderung meinerseits nicht bereit, wieder Medikamente zu nehmen. Ich warf alles in die Waagschale: Wir würden uns jetzt doch schon so viele Jahre kennen, er könne mir vertrauen, solle auf meinen Rat hören und so fort. Aber er wollte nicht. Schade. Immerhin hatte ich es versucht. In Gedanken bereitete ich mich schon wieder auf eine Zwangseinweisung vor, da sich bereits ankündigte, dass Herr A. „zurückschlagen“ wollte.
„Sie sind der einzige, dem ich noch vertrauen kann“
Dann aber kam eines Abends sein Anruf: Er sei voller Angst, er wisse nicht mehr weiter, er habe jetzt eingesehen, dass er wohl doch besser auf meinen Rat hören solle.
„Wahrscheinlich sind Sie der einzige in dieser Stadt, dem ich noch vertrauen kann“, sagt er mir am nächsten Tag. Wir vereinbaren, dass er sofort wieder mit einer Medikamenten-Kombi einsteigen soll, von der ich hoffe, dass sie das Ganze noch einmal herumreissen kann.
Drei Tage später sitzt Herr A. wieder im Warteraum. Er will über eine Erhöhung der Medikamente sprechen. Die Angst ist besser, aber es ist noch nicht genug. Ich habe das Gefühl großer Erleichterung. Sollte es tatsächlich gelingen, dieses Mal eine Einweisung in die Klinik zu vermeiden?
Weitere drei Tage später hole ich Herrn A. wieder im Wartezimmer ab. Er lächelt mich an. Ich kenne dieses Lächeln seit Jahren. Es hat geklappt. Er ist über den Berg. Seine Angst ist fast verschwunden. Er ist nach wie vor psychotisch, aber die Halluzinationen und der Wahn sind wieder positiv getönt.
Manchmal ergibt doch alles Sinn
„Diesmal war es knapp, oder?“, fragt er mich. – „Ja“, sage ich, „das war es.“
Am Abend dieses Tages hebe ich etwas von meinem ganz speziellen Konto ab. Nein, kein Geld, das meine ich nicht. Ich habe einen Beruf, der neben den finanziellen Einnahmen noch ganz andere Einkünfte beschert.
Es ist eine Mischung aus Freude, Dankbarkeit, Bestätigung und dem Gefühl, dass eine gute Beziehung auch in diesen Tagen, auch bei diesem ganzen psychotischen und nicht-psychotischen Wahnsinn um uns herum, noch eine tragfähige Basis zwischen zwei Menschen darstellen kann. Die Welt mag zynisch sein, böse, krank und verkehrt. Aber wenn ich auf mein ganz spezielles Konto schaue, weiß ich, dass alles doch irgendwie einen Sinn macht.
The bad thing’s gone away. Für heute.
Was wir in die Welt setzen, ist Teil derselben. So oder so.