1997. Ich bin jetzt seit einem Jahr als Notarzt unterwegs. So ’ne richtige Scheiße blieb mir bisher erspart. Klar. Es gab Tote, Blut und Benzingeruch. Aber eigentlich nix, was mich richtig nachhaltig angefasst hat.
Wir haben Sommer. Kurz nach eins an einem Freitagmittag, als es piept. Heute haut mir das Schicksal voll auf die Fresse!
„Verkehrsunfall, eine verletzte Person“.
Ich nehme meine Jacke vom Haken und laufe zum Klinikausgang, wo mich der NEF-Fahrer Sekunden später abholt. Über Funk erfahren wir, dass es einen Unfall vor dem hiesigen Gymnasium gegeben hat. Die knapp zwei Kilometer Anfahrt fliegen an mir vorbei. Als wir in die Glasergasse einbiegen, sehe ich bereits das Warnblinklicht von einem Schulbus, daneben das Blaulicht eines Polizeiautos.
Ich steige aus und laufe vor. Da liegt sie. Sophia. 13 Jahre alt. Zwischen Bordstein und dem Heck des Schulbusses. Ihr Fahrrad wenige Schritte dahinter, komplett schrott, ist der Bus drüber gerollt.
Über Sophia auch.
Sie ist nach der sechsten Stunde mit dem Rad auf dem Nachhauseweg, als der Schulbus beim Überholen ihren Fahrradkorb von hinten touchiert. Sie schlingert, verliert das Gleichgewicht und stürzt genau vor den Bus. Der überrollt sie zunächst mit dem rechten Vorderreifen und dann mit dem hinteren Zwillingsreifen. Dann erst steht er.
Der Anblick ist der reinste Horror. Alles Matsch. Kopf, Hals und Brustkorb im wahrsten Sinne „breit gefahren“. Der Schädel ist offen. Hirn tritt aus. Das Gesicht ist nicht mehr als Gesicht zu erkennen. Irgendwo sehe ich Zähne, aber keinen Mund, die Augen treten aus dem Kopf, keine Nase. Überall Blut. Ihre langen blonden Haare in einer riesigen Lache aus Blut und unbekanntem menschlichem Gewebe. Der Hals ist flach wie ’ne Zigarettenschachtel. Auf dem weißen Girlie-Shirt neben Blutflecken auch Reifenspuren ... Ich habe das Gefühl, dass es mir die Beine wegreißt.
„Willste intubieren?“, fragt mich mein Sani. Ich drehe mich um und bedeute ihm, dass wir nichts mehr machen können. Nichts mehr, außer diesen geschundenen jungen Körper vor den Blicken und den Fotoapparaten der bereits anwesenden Presse zu schützen.
Das folgende Wochenende ist ein Alptraum.
Am darauf folgenden Montag rufe ich in der Rechtsmedizin an, um zu erfahren, was die Obduktion des Kindes ergeben hat. „Wer sind Sie? Der Notarzt vom Unfallort? Ich darf Ihnen keine Auskunft geben. Es wird wegen des Anfangsverdachtes auf unterlassene Hilfeleistung bzw. Totschlag wegen Unterlassung gegen Sie ermittelt. Bitte rufen Sie am Nachmittag nochmal an. Dann darf ich Ihnen eventuell etwas sagen.“
Wie vom Blitz gerührt lege ich auf. Unterlassene Hilfeleistung, weil ich entschieden hatte, nichts Lebensrettendes mehr für das Kind tun zu können. Hab ich einen fatalen Fehler gemacht? Hab ich die Unfallsituation falsch eingeschätzt? Hätte das Kind mit einem guten Notarzt überlebt? Was bedeutet das alles? Gericht? Knast?
Eine schier endlose Zeit bis zum Nachmittag liegt vor mir. Mein Kopf dröhnt. Ich tigere durch die Klinik, versuche mich irgendwie abzulenken. Es gelingt nicht.
Um 14 Uhr klingelt mein Diensthandy. „Rechtsmedizin, Dr. Meier am Apparat, wir hatten heute morgen schon gesprochen. Ich habe Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft gehalten. Die Ermittlungen gegen Sie sind eingestellt. Das Kind hatte allein schon sechs Verletzungen, die jeweils nur für sich betrachtet nicht mit dem Leben zu vereinbaren sind. Hirndurchtrennung, Halswirbelsäulendurchtrennung, Abriss der Halsschlagadern, Lungenabriss beidseits, Abriss der Hauptschlagader vom Herzen, Brustwirbelsäulendurchtrennung.“
Den Rest des Telefonates erlebe ich wie durch Watte. Ich will nur noch raus aus der Klinik, ab nach Hause, scheiß Medizin, fuck, hätt’ ich bloß was anderes studiert. Mein von mir sehr verehrter Chefarzt sieht mich gehen, deutlich vor dem Feierabend. Er sagt nur: „Bleib auch noch morgen zu Hause.“
PS: Ich habe mir nach diesem Fall geschworen, dass ich immer, egal wie schlimm die Unfallfolgen auch sein mögen, versuche einen Beatmungsschlauch und einen Tropf zu legen. Diesen Vorwurf möchte ich nie wieder hören.
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