Heute gab es wieder mal ein Trauerspiel im Apothekentheater. Ein Kunde von uns, inzwischen fast 90 Jahre alt, fiel mit seiner resoluten Tochter bei uns ein. Er selbst ist ein ruhiger Mann, klein und gebeugt auf seinen Stock gestützt. Sie ist ein richtiger Dragoner mit ausladendem Vorbau, die Haare blondiert und toupiert, außerdem viel zu viel Makeup und Parfüm am Leib.
Sie baute sich gleich vorne auf wie die Rachegöttin persönlich, während er sich sichtlich unwohl fühlend hinter ihr herumdrückte. „Na, das kann ja heiter werden“, dachte ich noch, aber doch das Gegenteil war der Fall.
Mit lauter Stimme fing sie gleich an zu tönen: „Es geht um die Inkontinenzversorgung für meinen Vater, wer ist denn da zuständig?“ Er zog seinen Kopf noch mehr zwischen die Schultern und wäre vermutlich am liebsten im Boden versunken.
„Diskretion? – Nein, danke!“
Wie beschrieben befindet sich unsere Apotheke in einer sehr übersichtlichen Vorstadt, in der jeder jeden kennt. Ich bot der Tochter an, dass wir uns über das Thema im Beratungszimmer weiter unterhalten könnten, um dem armen Mann diese Peinlichkeit zu ersparen, doch sie rief fast noch lauter: „Das könnte Ihnen so passen, was? Nein ,nein, es können ruhig alle hören, wie sie hier die alten Leute über den Tisch ziehen! Aaaaaber nicht mit mir!“.
Puuuh! Immer ruhig bleiben und nicht die Fassung verlieren, Ptachen! „Worum geht es denn bitte?“ – „Na, ganz einfach, SIE haben einen Versorgungsvertrag für die Windeln für meinen Vater. Anfang Oktober hat er Ihnen das Rezept für das ganze Quartal gebracht. Als er dann das letzte Mal hier war hat ihm jemand gesagt, er könne nur noch einmal Windeln holen, dann müsste er wieder etwas zuzahlen. Es ist doch erst Mitte November, das kann ja nicht sein!“
Das Thema Inkontinenzversorgung ist ein ganz schwieriges
Dazu muss ich kurz etwas erklären: Das Thema Inkontinenzversorgung geht uns allen seit Jahren gehörig auf die Nerven. Zuerst hatten die Kranken Kassen die Idee, die Rezeptabrechnung so kompliziert zu gestalten, dass möglichst viele Apotheken bei der Abrechnung Formfehler machen und sie auf Null retaxiert werden.
Sprich: Wir mussten darauf achten, dass auf den Rezepten keine Firmen angegeben sind, die genaue Anzahl der benötigten Inkontinenzmaterialien, die PRO TAG gebraucht werden und die genaue Anzahl der Windeln/Vorlagen etc. draufstehen dass außerdem die passende 10-stellige Hilfsmittelpositionsnummer vermerkt ist, dass auf der Rückseite des Rezeptes eine Unterschrift des Patienten zu finden ist, die bestätigt, dass er alles bekommen hat.
Sollte einer der genannten Punkte NICHT beachtet worden sein, zahlt uns die Krankenkasse NICHTS. Obwohl also das korrekte Produkt abgegeben war, wurde häufig wegen eines reinen Formfehlers nicht gezahlt und wir haben in die Röhre geguckt. Die korrekte Abrechnung erschwerte sich vor allen Dingen dadurch, dass die MFAs in den Arztpraxen oft gar nicht wussten, was da alles drauf soll und wir dann mit jedem einzelnen Rezept wieder dorthin wackeln durften.
Inkontinenzversorgung über die Sanitätshäuser
Nachdem das wohl nicht genug Ersparnis brachte, machten die Kassen einen neuen Versuch: Die Patienten sollten nun gar nicht mehr von den Apotheken beliefert werden dürfen, sie wollten das über einen zentralen Verteiler (meist irgend ein Sanitätshaus) selbst übernehmen. Das war ehrlich gesagt die komfortabelste Lösung für uns – an Inkontinenzrezepten verdient man sowieso so gut wie nichts, hat Ärger mit der Abrechnung und dauernd die Riesenkisten mit Windelpaketen herumstehen, die wir außerdem noch meistens frei Haus herumkutschieren, weil die Empfänger oft zu schwach sind, die Ware selbst abzuholen.
Offenbar klappte das aber alles nicht so reibungslos, wie sich die Kassen das so vorgestellt hatten. Die Sanitätshäuser lieferten nämlich nicht so komfortabel peu à peu wie die Apotheken. Nein, sie fuhren oft einen Halbjahresbedarf auf einmal aus und stellten den armen Patienten damit das ganze Zimmer voll. Oder sie lieferten gar nicht bzw. zu spät, sodass die Apotheken immer mal den Lückenbüßer machen durften, bis endlich Nachschub da war. „Frisch Inkontinente“, zum Beispiel nach einer Prostata-OP, durften auch schon mal zwei Wochen warten, bis da jemand vorbei kam. Also wieder zurück in die Apotheken mit der Versorgung.
Und wieder zurück in die Apotheke damit
Wir haben zur Zeit bei manchen Kassen Individualverträge, bei denen der Kunde unterschreibt, dass er bei uns seinen Quartalsbedarf abholt und die Kasse überweist uns dafür eine Pauschale in der sagenhaften Höhe von 29 Euro pro Monat. Alles was er darüber hinaus benötigt, muss er aus eigener Tasche bezahlen. Und das ist sogar noch relativ „großzügig“, es gibt Krankenkassen, die zahlen pauschal nur noch 12,50 Euro monatlich – ein Witz!
Zurück zu unserem armen Kunden, der vor Scham immer kleiner wurde. Wir haben ihm zu Vertragsbeginn einige Muster der verschiedenen Produkte zu Testzwecken mitgegeben, damit er zu Hause in aller Ruhe ausprobieren kann, mit was er zurecht kommt. Er hat sich für „pants“ entschieden, quasi Windeln die er einfach wie eine Unterhose hochziehen kann, da er mit losen Vorlagen zum Einlegen in eine Fixierhose nicht zurecht kam. Zehn Stück kosten da etwa 11,50 Euro, man kann sich also mal fix ausrechnen, wie weit man damit im Monat kommt. Wenn man nur zwei Mal täglich eine neue anzieht, hat man den „Quartalsbedarf“ nach noch nicht mal sechs Wochen verbraucht.
Bloßstellung durch die eigene Tochter
Das versuchte ich also dieser Furie zu erklären, ohne dass die halbe Ortschaft in einer Stunde weiß, dass ihr Vater „Windeln“ braucht. Sie regt sich natürlich weiter auf, warum wir denn ihrem Vater dann die „teuren Dinger“ aufgeschwatzt hätten, die losen Vorlagen hätten es doch sicher auch getan. Mein Hinweis, dass er es damit versucht hatte, aber nicht gut damit klarkam, wischte sie mit einer Handbewegung vom Tisch.
„Ach, was! Paperlapapp! Das wird ab dem nächsten Quartal jetzt umgestellt. Kann doch nicht sein, dass dafür seine Rente draufgeht!“. Gemeint war wahrscheinlich „mein Erbe“, aber sei es drum ...
Traurig! Ich hätte am liebsten gefragt, wie lange ER wohl für SIE die Windeln bezahlt hat und ob er sie auch mal bloßgestellt hat, weil sie nicht früh genug trocken wurde oder vielleicht nachts noch lange ins Bett gemacht hat.
Ein soooo sensibles Thema, egal in welchem Alter. Aber in diesem Alter ist das besonders bitter.