Leistung ist Arbeit pro Zeit. Wenn ich also in der sechsten Klasse „Mechanik“ verstanden und richtig angewendet hätte, hätte ich in meinem Leben mehr geleistet, weil ich früher damit angefangen hätte. Egal wie viel ich jetzt mehr arbeite, den Zeitverlust kann ich nie wieder einholen.
Ich habe jetzt fast 20 Jahre darauf gewartet, den Satz des Pythagoras anzuwenden. Weder beim Kauf des ersten eigenen Niederflorteppichs noch bei der Berechnung der Mindestgröße meines Kleiderschrankes kam dieser bisher zum Einsatz.
Erfreulicherweise stellte ich kürzlich fest, dass in der Schule Gelerntes durchaus nützlich für den Alltag ist, ja sogar überlebenswichtig. Ich las kürzlich von einer Mutter, dass sie besorgt sei, da ihr Kind zur Einschulung weder das große Einmaleins noch den eigenen Namen schreiben oder irgendwas lesen kann.
Und ich muss sagen: Ja, das ist besorgniserregend. An dieser Stelle möchte ich meinen alten Physiklehrer grüßen.
In der 6. Klasse haben wir uns mit Mechanik beschäftigt und in meiner jugendlichen Hormonlastigkeit habe ich die Notwendigkeit von Physik für mein gesamtes Leben leider noch nicht verstanden. Denn dieses lässt sich auf eine einzige Formel reduzieren:
Leistung ist Arbeit pro Zeit
Die Ignoranz der naiven Schulkinder
„Ja, schön“, denkt der hastige Leser. Ist das wieder so ein Ding wie mit dem Pythagoras? Nein, die gesamte Schönheit zeigt sich in der Einfachheit dieser Formel und wir naiven Kinder haben es damals einfach ignoriert und lieber Zettelchen durch den Unterricht kreisen lassen. Es betraf nicht nur Physik. Wer konnte damals schon ahnen, dass Englischvokabeln pauken einem viel Kummer im Alter ersparen würde? Statt der Lehrkraft gebannt zu lauschen, war leider das Dr. Sommer-Team unser geistiger Führer.
Verloren und verpfuscht
Aber nochmal von Anfang an. Wir erinnern uns: Leistung ist Arbeit pro Zeit. Wenn ich also in der sechsten Klasse „Mechanik“ verstanden und richtig angewendet hätte, hätte ich in meinem Leben mehr geleistet, weil ich früher damit angefangen hätte. Egal wie viel ich jetzt mehr arbeite, den Zeitverlust kann ich nie wieder einholen. Mein Leben ist also verloren und verpfuscht. Ich kann meine Energie jetzt einzig und allein der Erziehung meiner Kinder widmen, denn die haben noch die Zeit, die ich vertan habe.
Menschen brauchen Ruhe?
In meiner Kindheit waren meine Eltern nicht aufgeklärt genug und vor allem waren sie sich des Zeitfaktors nicht bewusst. Musste man früher bis zur Erschöpfung arbeiten, so gab es dennoch garantierte Freizeiten, z. B. den wohlverdienten Feierabend. Sonntags wurde nach göttlichem Willen gebetet und pausiert, denn Menschen brauchen Ruhe. So simpel war das. Herbert Renz-Polster, der Großmeister der Kinder-Seelen gibt mir Recht, indem er in „Die Kindheit ist unantastbar“ schreibt:
Nun wird behauptet, Kinder kämen durch die frühe Bildung schneller voran:
also früh ran an die Zahlen, die Fremdsprachen, die Naturwissenschaften!
Mensch, frage ich mich da zusammen mit meinen auf Bäumen und Bolzplätzen
verwahrlosten Freunden: Mensch, wie weit könnten wir heute sein,
hätten unsere Eltern und Erzieherinnen damals schon von früher Bildung gewusst!
Das Versagen meiner Eltern
Heute muss ich das Versagen meiner Eltern ausbügeln, indem ich jederzeit auf E-Mails reagiere, Überstunden mache und für zwei oder drei arbeite. Nach einer Verschnaufpause sehne ich mich schon gar nicht mehr, denn diese ist unproduktiv. Ich renne mein gesamtes Leben der verlorenen Zeit nach, um nicht den Anschluss an die zu verlieren, die früher einfach schneller waren als ich.
In der Leistungsfalle
Bei einigen Mitmenschen haben die Eltern derart viel Zeit mit Würmer suchen oder Wolken anstarren verschwendet, dass sie nun aus einem 24-Stunden-Tag das Maximum rausholen müssen, indem sie Helferpillen, Tabletten oder andere Stimulanzien nehmen, um den ewig leeren Akku zu füllen. Erschwerend hinzu kommt, dass es ab einem bestimmten Alter mit der Leistung so ne Sache ist. Man leistet ja nicht bis zum bitteren Ende. Das sieht man auch in anderen Lebensbereichen. Irgendwann gibt es einen Leistungseinbruch und der ein oder andere braucht auch mal kleine blaue Pillen zur Leistungssteigerung. Aber das nur am Rande. Alles dreht sich um Leistung, denn wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Wer leistet wird was, wer nicht leistet wird nichts.
Selbst im späteren Lebenslauf kann man immer wieder in die Leistungsfalle geraten und an einen unproduktiven Partner geraten. Wichtig ist die Leistungsbereitschaft des Anderen. Ist der Verdienst hoch genug? Sind die Gene gut? Ist die Sozialkompetenz ausreichend, um bei der Aufzucht von Kindern aktiv mitzuwirken?
Ich habe es nun doppelt schwer. Zum einen die sorglosen Eltern, die mein gesamtes Leistungspotential untergraben haben, zum anderen habe ich bedauerlicherweise zwei Jungs. Statistisch gesehen werden Männer 78,5 Jahre alt, Mädchen haben ein paar Jahre mehr. Der Älteste hat quasi jetzt schon 3,8 % seines Lebens vergeudet, wäre er ein Mädchen, wären es erst 3,6 %.
Wer sein Kind liebt, denkt an die Zukunft
Die 3,8 % sind ehrlicherweise auch noch schöngerechnet und eigentlich sollte man die Leistungsdauer mit dem Alter der Eltern bereinigen, denn ich möchte mich schon noch selber an den Früchten meiner Arbeit erfreuen. Denn nichts anderes ist es ja. Es ist meine Arbeit. Sei es, dass ich stundenlang Buchstaben malen übe, zur musikalischen Früherziehung fahre, jede Woche ins kalte Nass springen muss, um das begehrten Frühschwimmerabzeichen zu erlangen oder einmal die Woche ein französischer Abend am Essenstisch herrscht. Bilinguale Kindergärten sprießen ja wie Unkraut aus dem Boden, man kann nur einen Vorsprung zu anderen Kinder erzielen, wenn die Sprachkenntnisse sich zu Hause festigen können.
3,8 % verlorene Zeit und es gibt noch so viel zu tun. In 3 Jahren beginnt die Schule und bis dahin muss das Lesen und Rechnen sitzen. Früher hat man solche Kinder Streber genannt und sie mit dem Kopf voran in die Toilette bugsiert, heute müssen sich die Lehrer in der ersten Klasse mit Kindern rumschlagen, die das Leistungsniveau der Klasse nicht halten können und versuchen, ihnen binnen weniger Wochen den einfachsten Dreisatz näher zu bringen. Niemals werden diese Kinder das alles aufholen können. Schlimmstenfalls werden sie nie das Abitur schaffen und ihren Lebenslauf fälschen müssen, um als letzten Ausweg in die Politik zu gehen.
Da hilft auch kein „Mein Kind ist sehr sensibel, es kann toll zeichnen oder singen“. Will man das wirklich unterstützen? Wird einem das Kind dankbar sein, wenn es mit 20 an einem kleinem Theater angestellt sein wird und Tonnen an Chia-Samen verspeist? Es wird nie in unserer Gesellschaft mithalten können und immer neidisch auf den Porsche 911 seiner Mutter blicken. Das führt unweigerlich zu Depressionen und familiären Verstimmungen. Wer sein Kind liebt, der denkt an die Zukunft.
Leistung, Leistung, Leistung
Wichtig ist es, den Kindern früh den Leistungsgedanken einzuimpfen, damit sie später ohne Murren mehrere Instrumente und Sprachen beherrschen. Die asiatischen Länder haben dies mühelos verinnerlicht; wir sind rückständige Neandertaler in dem Bereich. Wenigstens greift eine flächendeckende frühe Medienkompetenz um sich. Welcher Dreijähriger hat noch nicht die Star Wars Edition in der Extended Edition gesehen? Memo an mich: dringend nachholen.
Leistung, Konkurrenzkampf und Schnelligkeit. Was früher Gymnastik war, ist heute eine Hochleistungsdomäne und ich sage „Gut so!“. Lebe durch dein Kind, denn Liebe ist Kontrolle.
Eine Generation, die zunehmend in den besten Lebensjahren mit
Burn-out zu kämpfen hat, entwirft für ihre eigenen Kinder einen Lebensweg
mit noch mehr Tempo, noch mehr Leistung, noch mehr „Förderung“.
Sie funktoniert Kindergärten zu Schulen um, weil sie glaubt, Kinder,
die früh Mathe lernen, seien schneller am Ziel.
Moment einmal – an welchem Ziel?
(Herbert Renz-Polster. Aus: Kinder verstehen)