Schäden am Sehnerv durch Tumoren, Hirnblutungen oder vor allem Glaukome können das Sehvermögen einschränken. Ein neues nicht-invasives Verfahren soll Betroffenen nun helfen. Kleine Wechselstrom-Impulse erhöhen dabei die Aktivität der zuständigen Gehirnregionen.
Schäden am Sehnerv können auf vielfältige Weise das Sehvermögen einschränken. Ursache ist in vielen Fällen ein Glaukom, doch auch Hirnblutungen, Tumoren, Entzündungen und angeborene Anomalien beeinträchtigen die Funktion des Sehnervs. Noch sind sich die Experten nicht völlig einig, in welchem Ausmaß bei Patienten mit einer Sehnervschädigung eine verminderte Sehkraft wieder hergestellt werden kann. „Fast immer gibt es eine reversible und eine irreversible Komponente bei Schäden des Sehnervs“, sagt Josef Flammer, ehemaliger Chefarzt der Augenklinik des Universitätsspitals Basel. „Je nachdem, ob die Nervenfasern einfach ihre Funktion eingestellt haben oder bereits abgestorben sind, kann man Verbesserungen erreichen oder nicht.“ Dies, so Flammer, sei von Patient zu Patient aber individuell sehr verschieden. Im Mittelpunkt der Therapie standen bislang meist die Senkung des Augeninnendrucks, die Verbesserung der Durchblutung oder bei Tumoren deren Entfernung. Nun könnte ein weiteres Verfahren die derzeitigen Behandlungsoptionen ergänzen. In einer klinischen Studie konnte ein Forscherteam aus mehreren deutschen Universitäten zeigen, dass eine Stimulation mit Wechselstrom die Sehleistung von Patienten mit einer Sehnervschädigung verbessern kann. Wie die Wissenschaftler um Bernhard Sabel in einem Artikel der Fachzeitschrift PLOS ONE berichten, wird dabei die Hirnplastizität in den Gehirnarealen erhöht, die für die Informationsverarbeitung von optischen Reizen verantwortlich sind.
In der multizentrischen, randomisierten und doppelblinden Studie unterzogen sich 80 Probanden der Stimulation mit Wechselstrom, Nachbeobachtung und anschließender Analyse. Die meisten Testpersonen litten an einem Glaukom oder einer anterioren ischämischen Optikusneuropathie. Der Ausfall ihres Gesichtsfeldes betrug zwischen 20 und 80 Prozent. Die eine Hälfte der Teilnehmer erhielt über einen Zeitraum von zehn Tagen täglich 50 Minuten lang eine Wechselstromstimulation mit Frequenzen, die im Bereich von 5 bis 30 Hertz individuell angepasst wurden. Die andere Hälfte der Teilnehmer bekam über den gleichen Zeitraum ebenfalls eine Wechselstromstimulation – allerdings in einer wesentlich geringeren Dosierung. Die Elektroden waren auf der Haut über den Augen und an einem Arm angebracht, so dass der Wechselstrom sowohl den Stirnlappen des Großhirns als auch die Sehnerven stimulierte. Für die Wechselstromstimulation werden zwei Elektroden auf der Stirn über den Augen angebracht. © B. Sabel Die Probanden spürten während der Stimulation ein Kribbeln und sahen Lichtblitze. „Die kurzen Stromimpulse des Wechselstroms regen die Nervenzellen an zu feuern“, sagt Sabel, Studienleiter und Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie der Universität Magdeburg. „Wenn dadurch die Ganglienzellen ihr Aktionspotenzial in Richtung Gehirn schießen, kommt das dort wie ein Sehimpuls an.“ Während der Stimulation traten keine nennenswerten Nebenwirkungen auf. Nur in wenigen Fällen berichteten Probanden über vorübergehenden, leichten Schwindel oder Kopfschmerzen.
Anschließend untersuchten die Forscher um Sabel, wie sich die Stimulation mit Wechselstrom auf die Probanden ausgewirkt hatte. „Wir haben das Gesichtsfeld der Studienteilnehmer vermessen, indem wir sie auf einem Bildschirm helle Lichtreize erkennen und diese identifizieren ließen“, berichtet Sabel. Zusätzlich mussten die Probanden einen Fragebogen ausfüllen. Mit dessen Hilfe wollten die Forscher herausfinden, wie sich die Lebensqualität der Probanden im Alltag durch die Behandlung verändert hatte. Bei den Patienten, die die vorgesehene Wechselstromstimulation tatsächlich auch bekommen hatten, verbesserte sich das Erkennen von Sehreizen im gesamten Gesichtsfeld um durchschnittlich 24 Prozent, in der Kontrollgruppe dagegen nur um zirka 2,5 Prozent. Im defekten Sektor des Gesichtsfelds betrugen diese Verbesserungen rund 59 Prozent bei den behandelten Probanden und rund 34 Prozent bei den Kontrollprobanden. Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen waren statistisch signifikant. Die Probanden aus der behandelten Gruppe reagierten sehr unterschiedlich auf die Wechselstromstimulation: Ein Drittel zeigt massive Verbesserungen, ein Drittel messbare Verbesserungen und ein Drittel reagiert überhaupt nicht auf die Therapie. Dass auch in der Kontrollgruppe Verbesserungen auftraten, lag nach Ansicht von Sabel vermutlich nicht an einem Placeboeffekt sondern an der Minimalstimulation, die diese Patienten erhalten hatten. Wie die Auswertung der Fragebögen ergab, konnten die behandelten Probanden auch im Alltag wieder besser sehen.
Sabel geht davon aus, dass die Stimulation mit Wechselstrom weniger die Funktion teilgeschädigter Nerven wieder herstellt, sondern vor allem eine Resynchronisation der für die Verarbeitung der visuellen Information zuständigen Hirnnetzwerke bewirkt. „Die Netzwerke können durch den Wechselstrom wieder in den Takt kommen und somit die Restsehfähigkeit verstärken“, so Sabel. „Auf molekularer Ebene läuft wahrscheinlich ein Mechanismus ab, der große Ähnlichkeit mit der Langzeitpotenzierung hat, das heißt, wenn man Nervenzellen immer wieder zum Feuern bringt, dann stärkt man dadurch ihre synaptischen Verknüpfungen.“ Erste experimentelle Hinweise für diese Hypothese, die sie vor zwei Jahren in einem Artikel der Fachzeitschrift Neurology veröffentlichten, konnten Sabel mithilfe von nicht-invasiven EEG-Messungen bei Patienten mit Sehnervschädigungen erbringen. durch Wechselstrom aktivierte elektrische Felder im Gehirn (grün) © B. Sabel Im Rahmen der aktuellen Studie erfolgt zwei Monate nach der letzten Wechselstromstimulation eine weitere Untersuchung der Testpersonen. Sie zeigte, dass die durch die Wechselstromstimulation erzielten Verbesserungen Bestand hatten. Über diesen Zeitraum hinaus wurden die Probanden von den Forschern nicht mehr beobachtet. Wie Sabel und sein Team jedoch von einzelnen Studienteilnehmern erfuhren, blieb bei manchen die Verbesserung über viele Monate erhalten, bei anderen dagegen bildeten sich die Verbesserungen wieder zurück. „Wenn die behandelten Patienten nach einem längeren Zeitraum von mehreren Monaten immer noch besser sehen können, fällt das Sehvermögen wahrscheinlich auch danach nicht auf das Ursprungsniveau zurück“, erklärt Sabel. „Wenn das Gehirn bestimmte Areale im Alltag regelmäßig nutzt, stehen die Chancen gut, dass die wieder gewonnenen Fähigkeiten nicht mehr verloren gehen.“ Bei Patienten, so Sabel, bei denen die Behandlung nicht dauerhaft anschlage, lasse sich diese problemlos wiederholen.
Doch noch stehen die Forscher um Sabel ganz am Anfang der Erforschung der langfristigen Effekte der Wechselstromstimulation. „Wir wollen herausfinden, warum Patienten so unterschiedlich reagieren und wie man diese Variabilität besser in Griff bekommen könnte“, sagt Sabel. „Sie hängt wahrscheinlich nicht nur vom Ausmaß der Schädigung ab sondern auch davon ab, wie entspannt die Patienten während der Behandlung sind.“ Bei unter Stress stehenden Patienten, so der Forscher, blieben die Verbesserung in der Regel aus, das Alter spiele für den Therapieerfolg dagegen nur eine untergeordnete Rolle. Das neue Verfahren wird in Magdeburg bereits regulär angeboten. Die zehntägige Behandlung inklusive weiterer Untersuchungen kostet 3500 Euro. Über eine Kostenerstattung entscheiden die Krankenkassen nach einem entsprechenden Antrag im Einzelfall.