Weihnachten ist ein leiser Tag. Ein Tag, an dem sich einem oft die Kehle zuschnürt. Man vermisst seine Familie. Entweder ist man noch so jung, dass man am Tisch der Eltern einen leeren Platz hinterlässt oder man hat eine eigene Familie, was sich noch tausendmal schmerzhafter anfühlt als ersteres.
Ruhm und Ehre
An meinem ersten Studientag stellte sich der Rektor vor das versammelte Publikum und sprach: „Jeder Dritte von Ihnen möchte Medizin studieren, da ihm die Vorstellung von Ruhm und Ehre zu Kopf gestiegen ist. Ein weiteres Drittel soll die Familientradition fortführen oder konnte sich mit der Alternative eines Jurastudiums nicht anfreunden. Das letzte Drittel heiße ich herzlich willkommen.“
Ruhm, Ehre oder eine Liebschaft in jedem Hafen sind mir nie zuteil geworden. Da haben die Männer in unserer Branche einfach bessere Chancen. Silvester um das Jahr 2000 stand ich mit meinem liebsten Arbeitskollegen auf dem Dach des Krankenhauses und beobachtete das Feuerwerk, während ich über diese Ungerechtigkeit nachdachte. Eine Ärztin hat einfach die allerschlechtesten Chancen, einen Mann zu finden. Auf viele Männer wirkt dieser Beruf abschreckend, wobei Frauen mit einem Arzt anscheinend immer noch eine gut Partie machen.
Verkehrte Welt
Gesucht ist also eine seltene Spezies Mann. Leider laufen die einem nicht an der Supermarktkasse über den Weg. Neue Menschen kennenzulernen ist schlichtweg unmöglich in diesem Beruf. Man arbeitet immer so wie sonst kein anderer. Andere Menschen schlafen, während man selber dagegen ankämpft und während diese ihren ersten Kaffe im Büro trinken, fällt man orientierungslos, was Raum und Zeit angeht, ins Bett. Die meisten Freunde hören auch irgendwann auf, Einladungen auszusprechen, da die Antwort eh schon klar ist. Regelmäßige Hobbys fallen aus den gleichen Gründen aus.
Sei sorgsam mit deinen Wünschen
Bleibt zur Partnersuche eigentlich nur das Krankenhaus. Aber wer denn da? Der Patient? Der Pfleger? Der Kollege? Der Chef? Eine Liebelei in einer dieser Kombinationen kennt fast jeder von uns.
Ich wünschte mir jedenfalls an diesem besagtem Silvestertag einen Feuerwehrmann. Einen schnittigen, durchtrainierten Feuerwehrmann, dem ich ganz sorgsam den Ruß aus dem Gesicht wischen würde, nachdem er sich zuvor selbstlos in die Flammen geworfen hatte, um die Katze einer älteren Dame zu retten. An dieser Stelle endet der schnulzige Arztroman auch schon, denn der Pieper ging tatsächlich los.
Kundschaft in der Rettungsstelle. Da lag nun besagter Mann der freiwilligen Feuerwehr. Er war Anfang 30, wog ca. 120 kg und bei meinem Eintreffen wurde er gerade aus seiner – mit Erbrochenem garnierten – Kleidung herausgeschnitten. Pünktlich um Mitternacht hatte er eine Flasche Wodka auf einen Zug geleert und kippte in INRI-Stellung rücklings um. Er wurde noch eine Nacht überwacht und am Folgetag holte ihn seine Mutter ab. Drum sei sorgsam mit dem, was Du Dir wünschst.
Feuerwerk der Emotionen
Das war kein ungewöhnlicher Silvestertag im Krankenhaus. Dieser Tag gehört immer den großen Emotionen. Zum Beispiel der Wut über randalierende Betrunkene; Hilflosigkeit, wenn sich traumatisierte minderjährige Flüchtlinge beim ersten Knallen unter Sitzenbänken zusammenkauern; einem Gefühl der Zusammengehörigkeit, wenn eine einzige demente Patientin mit einem Feuerlöscher es schafft, alle feiertagsarbeitenden Kollegen an einen Ort zusammenzuführen. Ein blinkendes Lichtermeer aus zwei Löschzügen der Feuerwehr und einem großen Polizeiaufgebot. Selbst die Klinikleitung kam dazu, um sich an diesem Anblick zu ergötzen.
Weihnachten tut es besonders weh
Weihnachten hingegen ist ein leiser Tag. Ein Tag, an dem sich einem oft die Kehle zuschnürt. Man vermisst seine Familie. Entweder ist man noch so jung, dass man am Tisch der Eltern einen leeren Platz hinterlässt oder man hat eine eigene Familie, was sich noch tausendmal schmerzhafter anfühlt als ersteres.Das ist dann auch häufig der Punkt, wo man/Frau überlegt, die Arbeit niederzulegen und sich etwas anderes zu suchen. Einen soliden Beruf mit geregelter Arbeitszeit.
Man versucht, es sich heimelig zu machen, zieht ’ne Zipfelmütze an und ist bemüht, für alle ein freundliches Wort zu finden. Spätestens am Morgen des 24. Dezember haben sich fast alle Patienten auf eigenen Wunsch und gegen ärztlichen Rat entlassen. Man kann eine große Auferstehung in den Patientenzimmern beobachten. Lahme beginnen zu laufen und Blinde zu sehen. Die tödlichen Krankheiten sind plötzlich alle nicht mehr so schlimm. Ausgerechnet an einem christlichen Feiertag kann man schon mal den Glauben an die Menschheit verlieren. Nun werden die Betten frei für die Ärmsten der Armen, für die Vergessenen und Verstoßenen.
Ein Fest der Familie
Viele Pflegeeinrichtungen reduzieren zu den Feiertagen ihr Personal, in der Hoffnung, der ein oder andere Verwandte würde Oma oder Opa zum Familienfest gerne um sich haben. Dies erweist sich jedes Jahr aufs Neue als Trugschluß. Es ist ein unausgesprochenes Geheimnis: Verwandte, die mit ihren betagten und womöglich gebrechlichen Angehörigen überfordert sind, sind der wahre Grund für die feiertäglichen Krankentransport-Kolonnen ins Krankenhaus. Offiziell heißt es auf fast allen Einweisungen, der Patient wäre „verwirrt, gestürzt, hätte einen hohen Blutdruck“ oder sonst etwas, das seit Jahren bekannt ist.
Von B- bis Z-Promis
In dem Gewusel von alten verwirrten Menschen findet man den einen oder anderen B- bis Z-Promi, der sich noch schnell vor der Hummercremesuppe mit einem Kranken ablichten lassen möchte. Die von einer anonymen Quelle benachrichtigte Gefolgschaft aus Presse folgt diesem auf Schritt und Tritt. Besagter Promi findet mit geschultem Auge auch recht schnell das, was er sucht: Die Kinderonkologie. Kinder und Krebs zu Weihnachten: na, besser geht’s nicht und das sichert ihm bestimmt Lohn und Brot fürs kommende Jahr.
An solchen Tagen sehe ich weder Ruhm noch Ehre. Aber wo, wenn nicht hier sieht man, was diesen Tag ausmacht? Nächstenliebe ist es, wenn man trotzdem die Zeit findet, einen Herzenswunsch zu erfüllen – eine Salamipizza, Kuschelsocken und die ganze Nacht Disneyfilme ansehen.
Frohes Fest euch Pflegenden, Helfenden, Selbstlosen, Rettenden.
Eure Karin
Anmerkung: Danke liebe Medics für Eure Geschichten
Anmerkung 2: Ich habe dann irgendwann meinen Mann gefunden. Er hat der praktizierenden Medizin den Rücken gekehrt und versteht mich, wie ich arbeite oder was in mir arbeitet. Er hat geregelte Arbeitszeiten, am Wochenende frei und auch an den Feiertagen. So kann Familie funktionieren. Alle anderen Varianten kollidieren mit diesem Beruf und viele stehen früher oder später vor der Wahl, zwischen Familie oder dem Beruf in dieser Form. Die Scheidungsrate ist ähnlich hoch wie die Anzahl der Goldfische als Haustier.
Bildquelle (Außenseite): Nikos Koutoulas, flickr