Mitten in der Nacht werde ich durch das Piepen aus dem Tiefschlaf gerissen. „Bauchschmerzen. Nachforderung“ – komische Meldung. Bauchschmerzen sind ein eher seltener Grund für einen Notarzteinsatz. Und dann noch eine Nachforderung der RTW-Besatzung, die ja bereits bei der Patientin ist.
Ich bin gespannt ...
Über Land geht es durch die Nacht in das kleine norddeutsche Dorf. Am Bauernhof angekommen, empfängt uns der Altbauer. Seine Frau und die Sanitäter seien oben im Badezimmer. Zwei Treppen hoch und einmal links um die Ecke. Da sitzt dann Gerda vor mir im kleinen Bad. Im Nachthemd. Auf der Toilette, nach Luft ringend. Mit monströsem Bauch und auffallend dünnen Ärmchen und Beinchen.
Ihr total eingefallenes Gesicht schmerzverzerrt. Wäre sie nicht 75, so würde ich die Situation „dicker Bauch und krampfartige Schmerzen“ womöglich als beginnende Geburt mit Wehenschmerz interpretieren. Aber so? Sicher nicht. Vielmehr denke ich an irgendeinen Krebs in der Bauchhöhle, der einen „Wasserbauch“ zur Folge hat.
Meine kurze Anamnese ergibt, dass sie schon länger Unterbauchschmerzen hat. Ihre Heilpraktikerin habe ihr immer „Schüßler-Salze“ verordnet. Und nein, einen Arzt habe sie deshalb nicht aufgesucht. Ärzte würden sowieso nur Chemie verschreiben.
Wir legen einen Tropf und geben Sauerstoff. Ich verabreiche Gerda ein Medikament gegen Bauchkrämpfe und ein starkes Schmerzmittel.
Dann schaffen wir es gemeinsam mit viel Mühe und der Unterstützung von Jung- und Altbauer, die alte Dame in den Krankenwagen zu tragen.
Der Transport erfolgt auf der Trage sitzend, mit herunterbaumelnden Beinen. Jeder Versuch einer „normaleren“ Lagerung muss wegen sofort einsetzender Luftnot abgebrochen werden. Der riesige Bauch drückt in alle Richtungen. Auch nach oben auf die Lunge.
Im Krankenhaus angekommen, mache ich eine schnelle Übergabe an den diensthabenden Kollegen. Ich frage Gerda noch höflich, ob ich zu Ausbildungs- und Illustrationszwecken ein Foto ihres Bauches machen dürfe. Sie stimmt dem zu.
Wir verabschieden uns und wünschen alles Gute. Dann fahren wir zurück zu unserer Rettungswache. Nochmal ab ins Bett. Ich kann nicht einschlafen, wälze mich die restliche Nacht von links nach rechts. Gerdas Geschichte beschäftigt mich.
Am nächsten Morgen fahre ich in die Klinik, um zu erfahren, was die Diagnostik bei Gerda ergeben hat. Man habe umgehend nach ihrer Einlieferung eine Computertomografie veranlasst. Hier habe sich schon auf den ersten Bildern ein großer Eierstockkrebs gezeigt. Weitere Informationen konnten nicht gewonnen werden, da Gerda noch während der Untersuchung auf dem Tisch des Computertomografen starb. Schüßler-Salze haben ihre Grenzen.
Bildquelle: © Christoph Schenk
Bildquelle (Außenseite): Leonid Mamchenkov, flickr