Brav sitzt der kleine Junge auf dem großen Stuhl und schaukelt mit den Beinen. Hin und her. Hin und her. Aufmerksam schaut er sich um. Ungemütlich ist es hier, eine Art breiter Flur zwischen Kreißsaal, Schwesternzimmer und Untersuchungsräumen, in den an den Rand noch drei Stühle gequetscht sind, eigentlich für die wartenden Patientinnen der gynäkologischen Notaufnahme.
Jetzt wartet hier der Kleine mit Kaputzenjacke und Turnschuhen. Seine Mutter wird gerade von einer der Assistenzärztinnen untersucht. Verdacht auf Fehlgeburt. Sie fand es wohl besser, ihren Sohn vor der Tür zu lassen; verständlich, eine gynäkologische Untersuchung ist für Kinderaugen sicherlich nicht unbedingt zu empfehlen. Das Überbringen einer schlechten Nachricht genauso wenig. Und der Untersuchungsraum obendrein auch ohne Kind schon sehr eng.
Ich setze mich auf einen der freien Stühle. Der Junge nimmt sofort Kontakt mit mir auf; scheinbar ist ihm langweilig. Ich habe Mühe, ihn zu verstehen; er spricht ein Französisch, das er von zu Hause gewohnt ist und das unweigerlich verrät, dass seine Familie erst kürzlich aus Afrika eingewandert ist. Wie viele Leute hier arbeiten und warum sie ständig hin- und herlaufen; so in die Richtung verstehe ich seine Frage und versuche, ihm so gut wie möglich darauf zu antworten; wobei ich die Krankenhausabläufe zum Teil selbst nicht ganz durchdringe. Dann ist seine Aufmerksamkeit auf meinen Kugelschreiber mit vier Mienen unterschiedlicher Farbe gerichtet. Ein Geschenk meiner Schwester, die wusste, dass ich damit dem Beispiel vieler der Studenten, Ärzte, Schwestern und Hebammen folgen würde. Praktisch ist er, um beim Notieren von Messwerten und Notizen den Überblick zu behalten. Und sehr faszinierend aus Kinderperspektive. Ich erfahre, dass mein kleiner Freund fünf Jahre alt ist und Adek heißt. Ich muss grinsen: Adek wird auf Java ein jüngeres Geschwisterkind gerufen und ich verbinde mit dem Wort schöne Erinnerungen an meine Zeit in Indonesien.
Adek kritzelt ein bisschen auf einem Blatt Papier herum, das ich ihm gebe; aber wirklich malen scheint er nicht zu können. Als ich ihm ein Herz vormale und er vergeblich versucht, die Form abzumalen, bin ich erstaunt. Fangen in Frankreich die Kinder nicht schon mit vier Jahren an, in die 'Schule' zu gehen? Dann müssten sie so etwas doch eigentlich schon können, oder nicht?
Vielleicht nicht unbedingt in den nördlichen Pariser Banlieues. Ich denke daran, dass Lena, ebenfalls deutsche Erasmus-Studentin, mir gestern entsetzt von dem schlechten Zahnstatus in zwei Kindermündern erzählt hat. Bei der körperlichen Untersuchung war ihr dieser beim Blick in den Rachen als Nebenbefund aufgefallen. Etwas verwahrlost oder zumindest nicht ausreichend gefördert sind hier einige Kinder, wenn nicht sogar viele; ihre Eltern meist gar nicht unbedingt desinteressiert oder lieblos, sondern selbst etwas hilf- und ratlos, was gute Kindererziehung betrifft.
Adeks Mutter ist fertig, sie kommt aus dem Arztzimmer und bedankt sich bei mir dafür, dass ich mich ein bisschen mit ihrem Sohn beschäftigt habe. Ich habe das gerne gemacht; in der idealen Welt sollte es aber eine Spielecke wie in einem Möbelhaus geben, mit professioneller Kinderbetreuung. Denn Kinder sind in der Gynäkologie oft ein Thema, nicht nur die ungeborenen; schließlich tragen werdende Mütter oft ihr zweites oder drittes Kind unter ihrem Herzen. Unsere Patientinnen zum Teil auch ihr fünftes. Wobei die natürlich nicht alle mitkommen ins Krankenhaus.
Doch selbst, wenn die Kinder nicht dabei sind, sind sie Thema: Gestern beim Ultraschall wurde eine Patientin um 17.45h sehr unruhig, weil sie es kaum mehr schaffen würde, ihren Sohn um 18.00h von der Schule abzuholen. Ein typischer Interrollenkonflikt, wenn ich das großspurig einwerfen darf (Psychologie-Wissen aus der Vorklinik): Ist man nun eine brave und ergebene Patientin und ordnet sich der strengen Hierarchie im staatlichen Krankenhaus unter, lange Wartezeiten inbegriffen? Oder die gute Mutter, die pünktlich für ihre Kinder da ist? Beides scheint unvereinbar zu sein. Erfahrene Frauen haben ihren Weg gefunden, damit umzugehen und lassen sich einen frühen Termin geben, der mit relativ großer Wahrscheinlichkeit noch eingehalten wird.
Ich bin gespannt, wie sich die ärztliche Versorgung in den nächsten Jahren entwickeln wird; vieles ist gut: jeder wird behandelt, der Wissensstand ist besser als je zuvor, das Personal ist bemüht. Einiges ist schlecht: Prozesse sind nicht optimal organisiert, es stehen zu wenige medizinische Geräte zur Verfügung, das Personal ist genervt da überarbeitet. Jeder macht das Beste daraus, zwischendurch wird rumgezickt und gestöhnt; vielleicht sollten alle gleichzeitig auch einmal aufhören, Missstände durch Kreativität und Einsatz auszugleichen, dann gäbe es einen Knall und es würden sich hoffentlich einige grundlegende Dinge ändern. Frankreichs Krankenhäuser wecken den revolutionären Geist in mir. Doch die Arbeit mal liegen lassen? Das macht man in der Medizin nicht; schließlich warten die Patienten. In diesem Sinne: Bon courage!
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