Die Interpretation von weltweit erhobenen Daten zu Prävalenz, Inzidenz, Untersuchung, Diagnose und Therapie der Hypertonie ergab in der renommierten Fachzeitschrift „The Lancet“ ebenso verwirrende wie widersprüchliche Ergebnisse. Beim Lesen habe ich den Eindruck gewonnen, dass hier nur vorgefasste Meinungen reproduziert und willkürliches Auslassen von Fakten praktiziert wurden.
„Worldwide trends in blood pressure from 1975 to 2015: a pooled analysis of 1479 population-based measurement studies with 19.1 million participants“ der NCD Risk Factor Collaboration (NCD-RisC) vom 15.11.2015.
Die Interpretation im Abstract bedeutet, dass die weltumspannende Autorenschaft keinerlei belastbare Schlussfolgerungen (conclusion) ziehen, sondern nur vorsichtig interpretieren kann. Sie liest sich wenig spektakulär:
„Interpretation – Während der vergangenen vier Jahrzehnte haben sich die höchsten, weltweiten Blutdruck-Spiegel von den Ländern mit hohem Einkommen zu denen mit niedrigem Einkommen in Süd-Asien und der Sub-Sahara Afrikas entsprechend einem gegenläufigen Trend verschoben. Während der Blutdruck in Zentral- und Osteuropa beständig erhöht geblieben ist“ [Interpretation – During the past four decades, the highest worldwide blood pressure levels have shifted from high-income countries to low-income countries in south Asia and sub-Saharan Africa due to opposite trends, while blood pressure has been persistently high in central and eastern Europe]. © der Übersetzung beim Verfasser.
Was bleibt – eine Menge Fragen
Ganz ehrlich, ich habe in meinem ganzen medizinischen Leben, also seit dem 1. Oktober 1975, in Klinik, Ambulanz und Praxis noch nie einen derartigen pseudowissenschaftlichen Stuss gelesen! Meine offenen Fragen:
Was sind denn hier die Fakten?
Die global verbreitete essenzielle Hypertonie war und ist seit 1975 weltweit eine klassische wohlstands-, industrialisierungs-, arbeitsteilungs- und alterungsabhängige Erkrankung mit multifaktorieller Genese.
Zunehmender Wohlstand, Industrialisierung, Stressfaktoren und eine sich langsam angleichende Lebenserwartung bewirken jetzt in den Schwellenländern bzw. in den Entwicklungsländern eine zunehmende Hypertonie-Prävalenz und -Inzidenz, ebenso wie in postindustriellen Gesellschaften.
Wer anderes behaupten will, sollte es auch schwarz auf weiß beweisen können.
Die vorliegende Lancet-Publikation von Prof. Majid Ezzati et al. ist meines Erachtens grober Unfug.
(Glossar: Tacheles reden: umgangssprachlich: unverhüllt, ohne falsche Rücksichtnahme seine Meinung sagen, ganz offen die Sachlage darstellen; ursprünglich = Zweckmäßiges reden; zur Sache kommen, jiddisch tachles = Ziel, Zweck < hebräisch taḵlîṯ)
Bildquelle (Außenseite): Bernard Spragg. NZ, flickr