Nachmittags um drei geht mein Pieper. „Bewusstloses Kind, 6 Monate, Forsthaus XY“. Das will kein Notarzt lesen! Da musst du beim Lesen fast brechen! Das ist die Hölle!
Wir rasen mit Affentempo über scheinbar endlose Landstrassen durch die Wälder des Mittelgebirges bis Karl – mein heutiger NEF-Fahrer – irgendwann in einen Forstweg einbiegt. Anfangs noch Asphalt, dann über Stock und Stein, bis wir nach einer Ewigkeit endlich am Forsthaus angelangt sind. Wir sind die Ersten. Der RTW ist noch nicht da.
Die Haustür steht auf. Ich rufe. Ein Mann, der Kleidung nach der Förster, kommt mir mit einem Bündel von Kind entgegen gelaufen. Schlaff wie ein nasses Badetuch hängt der Säugling in den Armen des Mannes.
Als mir der Förster gegenübersteht, höre ich den Rettungswagen vor das Forsthaus rollen. Ich stelle mich in Sekundenschnelle vor und nehme das Kind entgegen, das mir der Mann, wohl der Vater, mit Tränen in den Augen übergibt.
„Ralf ist nach dem Mittagsschlaf nicht aufgewacht“, sagt er mir noch, bevor es mit großen Schritten rasch zum Krankenwagen geht. Tür auf, rein ins Auto, Säugling sanft auf die Trage. Der Kopf ist blitzeblau. Fast violett. Kein Puls. Keine Atmung. Die Pupillen seiner strahlend blauen Augen sind weit. „Hubschrauber“, rufe ich Karl zu.
Schnell den Kinder-Notfall-Koffer! Mit der kleinsten Beatmungsmaske drücke ich Luft durch Nase und Mund in den kleinen Menschen, während Thorsten sofort mit der Herzdruckmassage beginnt: Zwei Finger drücken ab jetzt gut 120 Mal pro Minute auf das winzige Brustbein. Karl zerschneidet den Strampelanzug, nachdem er über Funk einen Rettungshubschrauber angefordert hat und klebt die EKG-Elektroden auf die Brust. Nix. Nada. Scheiße. Null-Linie ... Ich sage Michael, dem zweiten Mann aus dem RTW, dass er die Beatmung übernehmen soll.
Wir brauchen einen Zugang! Der kindliche Körper benötigt das Stresshormon Adrenalin, wenn sein Herz wieder anfangen soll zu schlagen. Karl gibt mir auf Ansage die Bohrmaschine. Damit wird eine Knochenmark-Kanüle in Windeseile in das Schienbein gebohrt. Die verabreichten Medikamente resorbiert der Körper genauso gut aus dem Knochenmark. Gesagt, getan. Während Thorsten und Michael weiter im Wechsel drücken und beatmen, spritze ich die erste Dosis Adrenalin. Nach einer Minute ein Blick auf das EKG. Nix. Weiter drücken.
In der Zwischenzeit mein erster Versuch einen Beatmungsschlauch in die Luftröhre zu legen. Der geht in die Hose. Der Schlauch landet in der Speiseröhre. Der zweite Versuch gelingt. Das Beatmungsgerät ist bereits von Karl auf „Säugling“ eingestellt, sodass der Wechsel vom Beatmungsbeutel zur Maschine flott vonstattengehen kann. Die nächste Dosis Adrenalin. Weiter drücken. Abwarten. Kurze Pause. Blick auf das EKG. Nix. Weiter drücken.
Wieder Adrenalin. Weiter drücken. Pause. Blick auf das EKG. Null-Linie. Weiter drücken.
Nach circa 30 Minuten trifft die Hubschrauberbesatzung ein. Sie mussten abseits landen und noch eine Strecke zu Fuß absolvieren. Das Wesentliche ist schnell berichtet, sodass ich den Hubschrauberarzt bitte, sich mit dem Vater zu unterhalten, um weitere Hintergründe zu erfahren.
Adrenalin. Weiter drücken. Kurze Pause und rascher Blick auf das EKG. Null-Linie. Weiter drücken.
Mein Kollege kommt wieder. Der Junge sei ein halbes Jahr alt und wurde nach seinem Fläschchen zum Mittagsschlaf gebettet. Als die Mutter gegen halbdrei nach ihrem Sohn sah, habe er nur noch regungslos dagelegen. Der Vater habe das Kind dann die ganze Zeit beatmet. Wesentliche Vorerkrankungen habe der kleine Ralf nicht, die Schwangerschaft sei normal verlaufen.
Wieder Adrenalin. Weiter drücken. Wieder Blick auf das EKG. Null-Linie. Weiter drücken. Wir sind jetzt seit 45 Minuten dabei. Wir verabreichen zusätzlich ein anderes Medikament.
Weiter drücken.
Wieder Adrenalin. Weiter drücken. Kurze Pause und rascher Blick auf das EKG. Null-Linie. Weiter drücken.
Neuerliche Pause beim Drücken. Da! Zacken auf dem EKG! Ganz deutlich. Ein schwacher Puls in der Leiste.
Michael setzt sich ans Steuer des RTW. Wir rumpeln über den Waldweg zu der Wiese, wo der Hubschrauber steht. Schnell ist das ganze medizin-technische Gedöns umgeladen, da dröhnt auch schon die Turbine des Helikopters. Abflug in die Uni-Kinderklinik.
Die Jungs sind euphorisch als sie den RTW aufräumen, total aufgekratzt. Ich auch!
Sollte das wirklich noch geklappt haben? Bevor wir abfahren erkläre ich dem Försterehepaar, wo sie sich in der Uniklinik melden sollen. Die beiden bedanken sich mit rot geweinten Augen.
Zurück auf der Rettungswache sitze ich ziemlich mitgenommen allein in meinem Bereitschaftszimmer. Am Abend ein Anruf. Der Hubschrauberarzt meldet sich aus der Uniklinik. Der kleine Ralf hat es nicht geschafft. Ist auf der Intensivstation verstorben.
Leere. Mir laufen die Tränen.
Lieber Gott, warum tust du das?
Bildquelle: Armin Linnartz, Wikimedia
PS: Wie ich Wochen später erfahren habe ist Ralf tatsächlich am bereits vermuteten plötzlichen Kindstod gestorben. Eine schicksalhafte Erkrankung, bei der Säuglinge im Schlaf ohne äusseren Anlass plötzlich aufhören zu atmen und sterben. Die Ursache ist noch unbekannt.
PPS: Die „Merkel-Raute“ im Titelbild habe ich gewählt, um eine Eselsbrücke für die Wiederbelebung von Säuglingen und Kleinkindern zu geben.
Das Kind am Brustkorb mit der „Merkel-Raute“ umfassen und dann mit beiden Daumen gleichzeitig zudrücken und wieder loslassen. Circa 120 Mal pro Minute (in etwa der Takt von „TNT - it‘s dynamite“ von ACDC).
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