Bilder sagen mehr als Worte. Oder: Häufig wissen unsere Patienten mehr über sich und ihre Probleme als wir denken und spekulieren. Formuliere deine Probleme ohne Worte und dein Gehirn fängt an dich zu verstehen (nach J. Drischel).
Ich arbeite seit einigen Wochen mit Kindern bzw. Jugendlichen in der Akutpsychosomatik mit Schwerpunkt Magersucht. Eine tolle Arbeit mit ganz, ganz tollen Menschen.
Erschreckend ist aber, dass die Mädels immer jünger werden, immer früher und immer häufiger in die Klinik kommen. Umso schwieriger ist es dann manchmal, einen neuen Ansatz für ein scheinbar altes und unlösbares Problem zu finden. Eine dieser viel zu jungen Mädchen ist Tanja.
Tanja ist 13 Jahre und hat es in den letzten drei Jahren bestimmt auf sechs Klinikaufenthalte gebracht. Nach der Entlassung hungert sie sich jedes Mal wieder auf das Ausgangsgewicht zu Beginn der Behandlung runter, meist wird sie sogar noch dünner. Sie ist wohl auf der Station eher zu Hause als zu Hause. Aber alle Versuche, sie in ein betreutes Wohnen zu bringen und Hilfen über das Jugendamt zu installieren, waren bisher vergeblich. Tanja und ihre Mutter bilden da eine Mauer der Unveränderbarkeit.
Ein Floß auf einem Wildwasserfluss
In einer der letzten Visiten erzählte sie mir, dass sie mit der Therapeutin an einem „Lebensfluss“ weiter arbeiten wolle. Sie meinte wohl eine Art biographische Arbeit, die nun ausgehend vom Hier und Jetzt auf die Ursachen und Wurzeln der letzten Jahre schauen sollte.
Ich habe es aber mal bewusst falsch verstanden und gefragt, wie denn der Lebensfluss bei ihr an der Quelle aussehe. Ohne zu zögern berichtete mir das Mädchen, es handele sich um einen Wildwasserfluss, der immer reißender werde und auf dem Sie mit einem Holzfloß unterwegs sei. An der Quelle des Flusses sei das Wasser aber noch ganz ruhig. Hellblau, erfrischend und schön. Der Fluss sei breit, die Natur drum herum so schön und friedlich. Dann würden immer mehr Steine in den Fluss kommen und den Fluss einengen und die Flussgeschwindigkeit erhöhen. Wir hatten uns damit dann ja schon weiter auf dem Gewässer bewegt, nach Angaben von Tanja zur Zeit der Grundschule. Hier lagen richtige Brocken im Wasser.
Ich bitte die Mädchen dann gerne, einmal 10 Augenbewegungen auf dieses Bild anzuwenden. Diese Abwandlung von EMDR auf abstrakte bzw. imaginierte Bilder ist ganz toll mit Kids – und nicht nur da.
Und wie sieht der Lebensfluss der Mutter aus?
Sie meinte dann, dass sich das Floß in ein stabileres Boot verändere. Sie könne ja das Wasser nicht aufhalten. Aber sie könne vielleicht lernen, die Untiefen und Gefahren des Wassers zu beherrschen, zumindest achtsam damit umzugehen. Damit werde das Wasser weniger bedrohlich und sie traue sich zu, sich auf den Fluss zu begeben, Erfahrungen zu machen ... Ich war beeindruckt.Nun ging ich noch einen kleinen Schritt weiter und bat sie, daneben den Lebensfluss ihrer Mutter zu imaginieren. Intuitiv (oder geprägt durch therapeutische Erfahrung) nahm ich an, dass es da doch Zusammenhänge geben müsse. Tanja war sehr schnell in der Lage, den Lebensfluss ihrer Mutter zu beschreiben. Ein Gewässer mit ganz wenig Wasser, aber ganz vielen Steinen. Und Tanjas Fluss sollte den Fluss der Mama mit Wasser versorgen.
Dies alles fand in einer Visite von vielleicht 15 bis 20 Minuten statt.
Bildquelle (Außenseite): Lennart Tange, flickr