Ich habe es bisher – vom Vollrausch mal abgesehen –noch nie erlebt, dass mein Sehvermögen irgendwie beeinträchtigt war. Bis auf diesen einen Tag. Wie jeden Morgen saß ich am Frühstückstisch und wollte gerade die Neuigkeiten der letzten Stunden auf meinem Smartphone lesen.
Von einem Moment auf den anderen war es mir jedoch unmöglich, die vor mir liegenden Buchstaben zusammenzusetzen. So sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte keine Zeile mehr lesen.
Nach dem ich mehrmals „Ich kann nicht lesen!“ wiederholte und zunehmend hektisch und unruhig wurde, hatte ich die Aufmerksamkeit meiner Frau. Doch die schien nicht besonders beeindruckt von meinen Aussagen, versuchte mich aber zu beruhigen.
Schließlich rief ich mich zur Räson. Nachdem ich, für einen Mediziner typisch, die schlimmsten Differentialdiagnosen von Schlaganfall bis Hirntumor durchgegangen war, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich musste eine Migräneaura haben!
Als ich die Augen schloss, sah ich das typische Zackenmuster, welches sich nach Außen ausbreitete. Darunter drehte sich ein bunter Zeiger im Kreis. Bei geschlossenen Augen nahm ich das Zentralskotom nicht wahr, aber jenes war der Grund warum ich nicht mehr lesen konnte. Nach circa 20 Minuten war der Spuk vorbei. Das Fortifikationsmuster war bis in die Peripherie gewandert bis es schließlich verschwunden war.
Diskrepanz Diagnosekriterien vs. Realität
Da ich im Verlauf der letzten Monate immer wieder migränetypische Kopfschmerzen hatte, war für mich die Migräneaura naheliegend. Doch nach dieser erstmaligen Aura hatte ich keinen typischen Migränekopfschmerz. Stechende retroorbitale Schmerzen ja, aber der Rest der Diagnosekriterien war nicht erfüllt.
Wenn wir uns die Diagnosekriterien der International Headache Society anschauen, so würde die Diagnose das Kriterium „Typische Aura mit Kopfschmerzen, die nicht einer Migräne entsprechen“ erfüllen.
Ganz richtig wird im Kommentar aber auch erwähnt: „Fehlt ein Kopfschmerz, der die Kriterien einer 1.1 Migräne ohne Aura erfüllt, ist eine exakte Diagnose der Aura und gegebenenfalls die Unterscheidung von klinisch ähnlichen Phänomenen, die auf eine ernsthafte Erkrankung (wie eine transitorische ischämische Attacke) hinweisen, umso wichtiger.“
Jedem Patienten würde ich natürlich auch die Durchführungen eines MRTs des Schädels in diesem Fall empfehlen. Bei mir bin ich da weniger streng und warte noch ab. Eine Migräne mit Aura kann man mir also nicht diagnostizieren, auch wenn es naheliegend zu sein scheint. Patienten wünschen sich natürlich oft eine konkrete Diagnose, aber bei großer Unsicherheit sollte man lieber auf den zeitlichen Verlauf verweisen.
Oft kann die exakte Diagnose einer Migräne mangels objektiver Kriterien nämlich erst im Verlauf gestellt werden. Für Patienten ist es auch schwierig, Symptome in eine zeitliche Reihenfolge zu bringen und Beschwerden exakt zu benennen. Sie sollten deshalb immer einen Kopfschmerzkalender mitbekommen, um so ein Nebeneinander verschiedener Kopfschmerzarten besser feststellen zu können.
Was steckt hinter der Aura?
Ob nun Halluzination oder Pseudohalluzination sei mal dahingestellt. Erstmalig wurde die cortical spreading depression (CSD) von Leão 1944 im Tierversuch mittels EEG entdeckt. Aufgrund der gleichförmigen Entstehung der CSD und des klinischen Phänomens der Aura, wurde eine Verbindung zur Migräneaura hergestellt. Später konnte dies durch funktionelle Bildgebung bestätigt werden*.
Die CSD ist eine, von einem Punkt ausgehende, Depolarisationswelle (mit einer Geschwindigkeit von ca. 3 mm/s), die zu Verminderung der Hirnaktivität führt.
Im Folgenden kommt es dann zu einer Hyperpolarisation. Parallel werden die Vorgänge zunächst von einer Dilatation mit Hyperperfusion, dann von einer Konstriktion mit Hypoperfusion meningealer Gefäße begleitet.
Inzwischen ist man sicher, dass die CSD selbst einen Kopfschmerz, unter anderem über die Aktivierung trigeminaler Nozizeptoren, induzieren kann. Diverse Neuropeptide wie das CGRP, welches man sich auch therapeutisch zunutze macht, spielen auch eine Rolle. Der Thalamus als Schaltzentrale darf auch nicht fehlen. Generell beteiligt an der Schmerzentstehung ist eine meningeale Vasodilatation sowie eine neurogene Entzündung. Zur Vertiefung empfehle ich den Artikel von Schürks,M., Diener, H.-C. (2008)"Pathophysiologie der Migräne im klinischen Kontext", Schmerz, 22, S. 523-530.
Fazit: Ich bin eine Erfahrung reicher und kann mich nun besser in die Sorgen der Patienten hineinversetzen. Auch wenn ich nicht für alle neurologischen Krankheitsbilder eine Eigenerfahrung brauche (bzw. wünsche), so ist's manchmal dennoch hilfreich.
*Hadjikhani, N et al. (2001); Mechanisms of migraine aura revealed by functional MRI in human visual cortex. PNAS, Vol. 98, No. 8, 4687–4692.