100 Tage zum Lernen - 100 Tage zum Leben - 100 Tage zum Lieben. So erging es mir in meiner M2-Prüfungsvorbereitung. Statt in die Bib, ging ich Reisen, und lernte dabei nicht nur Medizin.
Schon lange hatte ich die Idee, die Zeit der Examensvorbereitung als Geschenk zu betrachten, eine Möglichkeit, zu verreisen, sich etwas zu widmen – und nebenher zu lernen. 100 Tage – das wären die längsten Ferien meines Studiums!
Die Nächte im Labor wurden immer länger, ich immer frustierter. Ich begann mir immer tiefer und tiefer einzureden, dass die 100 Tage einfach nur großartig werden würden, nein, mussten!
Die Misserfolge und die Atmosphäre im Labor schnitten tiefe Zweifel in mich, das ging so weit, dass ich mich als krank betrachtete, dass ich misstrauisch gegenüber meinen Mitmenschen, aber auch gegenüber meiner eigenen Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit wurde. Ich war am Ende.
Ich musste weg.
Tag 1 - Lernen mit dem Handy im ICE
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Rucksack und Koffer sind zum Bersten voll – Laptop, Kamera, 80m Kletterseil und andere schwere Kletterausrüstung. Für Kleidung bleibt nicht viel Platz.
Im ICE fange ich mit dem Lernplan an. Meine erste Session dauert fast 6h, mit der App am Handy.
Mein Bruder trifft mich am Alexanderplatz, wir gehen mit Freunden trinken. Ich bleibe nur eine Nacht. Ich genieße die Schwere meines Rucksacks und die neue Leichtigkeit in meinem Kopf.
Tag 2 – Skandinavischer Sommer und Risse im Granit
In Göteborg holt mich eine mir unbekannte Karin ab. Mein Kletterpartner hatte mir ihre Nummer gegeben – im Auto erfahre ich, dass sie meinen Freund eigentlich nicht kennt und von einem mir unbekannten Carl-Cristian beauftragt wurde, mich zur Hütte des Kletterklubs von Bohuslän zu bringen. Wir haben eine grandiose Fahrt und verfahren uns für einige Stunden. Der Beginn einer neuen Freundschaft.
Das Kletterklubhaus irgendwo im Wald Westschwedens wird zum Zuhause. Für 90€ Jahresmitgliedschaft kann man dort unbegrenzt lange wohnen – dies tun einige, z.B. Stefan, ein schwedischer Medizinstudent, der morgens zur Arbeit ins Krankenhaus fährt und abends noch die langen skandinavischen Sommertage zum Klettern nutzt. Darya, welche mit dem Motorrad von Spanien hochgefahren ist, einen Job gefunden hat, ihren Freund (dieser lebt diesen Sommer auch in besagter Hütte) besucht und an freien Tagen die prominenten Granitrisse entdeckt.
Während die anderen Kletterer den Tag mit einem Bier oder Tee am Kamin ausklingen lassen, sitze ich vom Klettern glücklich und geschunden über dem Laptop. Alle haben Verständnis und motivierende Worte für mich.
Erwartungsgemäß falle ich im Lernplan zurück; das macht aber nichts. Neben Innere lerne ich Rissklettern - perfektes Angstbewältigungstraining für die Prüfung und andere ernstere Situationen im Leben.
Tag 43 – Tanzwüste
Ich bin in einem Bus auf dem Weg zur Boom, einem hippiesken Psytrance-Festival in der savannenähnlichen Landschaft Alentejos in Portugal. Das sind meine letzten Stunden mit dem Handy und Amboss, bevor ich das Lernen gegen die Zeitlosigkeit der flirrenden Luft dieses staubigen Mikrokosmos der Buntheit eintausche. Mein Notebook habe ich gar nicht erst mitgenommen; dennoch stelle ich mir die Frage: Darf ich das? Und: Da sind Steckdosen und Schließfächer an manchen Ständen, sollte ich nicht vielleicht doch ein bisschen Lernen?
Die Bässe schütteln diese Gedanken aus meinem Kopf und ich tauche in die Gelassenheit des riesigen Sees, der den Leib von den 40°C im Schatten erfrischt. Welch wundersamerOrt. Zum Glück lerne ich nicht. Eine Woche lang.
Tag 52 – Lissabon
Das Lernen hier fällt mir besonders schwer – ich bin um etwa 15 Tage zurückgefallen.
Diese Stadt ist so faszinierend schön, das Essen köstlich, die Freunde übermannen mich immer wieder mit ihren Überredungskünsten, noch einen Wein zu trinken.
Als ich meinen Flug nach Portugal buchte, habe ich bewusst auf einen Rückflug verzichtet. Irgendwie würde sich schon ein Weg und der richtige Augenblick für die Heimkehr offenbaren.
Tag 57 – Zelten, Yoga, Meer
Schweißperlen platzen auf meiner Yogamatte – dabei bin ich immernoch bei den ersten Sonnengrüßen.
Ich bin in am Atlantik, in Milfontes. Dort treffe ich eine Freundin, welche ihr Examen im Frühjahr geschrieben hatte und dringend Urlaub vom PJ benötigt, am Campingplatz; gut, dass ich mein Zelt und Kochbestesteck dabei habe.
Jeden Morgen schütteln wir uns aus den Schlafsäcken und steigen zu Filippa ins Auto um zum Ashtanga-Yoga zu fahren.
Die Sonne und der Sand des Strandes sind in vielerlei Weise Feinde meiner Studiererei.
Deshalb lerne ich meistens in günstigen Imbissrestaurants oder im Aufenthaltsraum des Campingplatzes. Hier muss ich auch schon mal zu Techno greifen, um die portugiesischen Rentner, welche lärmend Karten spielen, oder die quietschenden Kinder am Tischkicker zu übertönen.
Obwohl das Yoga nur ca. 90 min dauert, sind die Tage extrem gefüllt – Camping, Kochen, die Wege, alles dauert länger als man denkt. Doch kann ich mich zufrieden geben: Mein Rückstand von knapp 15 Tagen bleibt konstant, ich schaffe das tägliche Lernpensum. Außerdem habe ich das Meer, die Sonne, die bereichernden Einblicke einer intensiven täglichen Yogapraxis.
Ich bleibe 15 Nächte in meinem Zelt. 2 Wochen Yoga und Meer. Und Lernen.
Tag 78 - Klettern in der Provence
Wir sind zu 6. und wollen nach Gap runterfahren. Ich melde mich freiwillig für den Kofferraum. Dort kann ich mit meinem Handy lernen.
Mit Freunden aus der Schweiz, Deutschland und Frankreich sind wir zum Klettern in Céuse.
Der Aufstieg zum Fels von Céuse, diesem Klettermekka der Provence, dauert zwischen 60 und 90min, immer bergauf. An sonnigen Tagen ist es so heiß, dass man mittags eine Zwangssiesta einlegen muss. An einem kühlen, windigen Tagen können wir auch durchklettern. Man spürt, dass der Herbst einbricht.
Doch irgendwie stehen die Zeichen auf Heimreise – ich habe kaum Internetzugang, außerdem wird eine Schlechtwetterfront angesagt; mein Handydisplay bricht. Ich bin unruhig. Und nehme schließlich die Fahrt mit Freunden nach Hause, etwas wehmütig, doch dankbar.
Tag 80 - Zurück
Ich bin zu Hause. Knapp drei Wochen vor der Prüfung. Hier finde ich mehr Ruhe zum Lernen; ich genieße die Bequemlichkeit einer Küche, eines eigenen Zimmers, mehr Zeit für mich.
Trotz Anstrengung kann ich, wie vorausgesagt, nur wenig aufholen. Am Ende lasse ich die Fächer Radio, Arbeits- und Umweltmedizin, Sozialmedizin, Rechtsmedizin, Patho, Epi und Alternative Heilverfahren (also 10 Tage) aus. Für eines der Probeexamina (3Tage) habe ich ebenfalls keine Zeit.
Damit habe ich mein ursprüngliches Ziel von etwa 90 Tagen Lernen fast erreicht.
Tag 104 – Tag 1
Es ist frisch an diesem Morgen. Ich habe kaum schlafen können. Über den umliegenden Bergen liegen Nebelschleier, die Sonne schiebt sich hier und da durch. Am Hauptfriedhof vorbei laufe ich auf die Messehalle zu, wo ich einst mein Physikum geschrieben habe. Ich schmunzel – vor mir erstrecken sich die noch schlafenden Buden eines Jahrmarkts, der in der gleichen Woche stattfinden soll. Um zu meiner Prüfung zu gelangen, muss ich das Labyrinth zwischen diesen Buden durchwandern, wie andere Kommilitonen und eine Frau mit Hund. Das nimmt der Prüfung etwas den Ernst.
Am Nachmittag sitze ich auf der Blauen Brücke. Ich konnte mittags nicht schlafen. Doch die Zweifel über meine Leistung am ersten Tag weichen einem Lächeln, welches mich in mein Yogastudio begleitet.
Um der erneuten Schlaflosigkeit vorzubeugen sitze ich mit einer Freundin auf zwei Bier in einer rauchigen Kneipe. Aber eigentlich weiß ich, dass ich diese Nacht gut schlafen werde, auch ohne Alkohol.
Tag 105 – Tag2
Nur noch eine Nacht vor mir. Ich konnte nun nicht anders, als meine Antworten in die statistische Onlineauswertung einzugeben. Ich habe an beiden Tagen die exakt gleiche Punktzahl. Es wird reichen.
Auch heute gehe ich zum Yoga. Und ich schlafe gut.
Tag 106 – Tag 3
Vorbei. Alles gut gegangen.
Ich glaube nicht an den einzigen richtigen Weg. Weder fürs StEx, noch fürs Leben. Ich bin keine Ausnahme oder etwas Besonderes; ich habe bloß den Mut gehabt, einen anderen Weg zu versuchen, von dem ich überzeugt war. Entgegen anderer Meinungen.
Bei allem was ich an Fachwissen für diese Prüfung gelernt (und teilweise wieder vergessen habe), bleibt eine Wahrheit am Ende über Allem stehen: Das ich das, was ich mir vorgenommen hatte, tatsächlich erreichen konnte.
Ich habe viel über mich gelernt, und am wichtigsten: Ich habe wieder Selbstvertrauen gefunden, nachdem ich dieses während meiner schlechten Erfahrungen im Labor verloren hatte.
Vielleicht hatte ich auch keine andere Wahl, als zu gehen.
Ein Freund von mir wird bald nach Indien fliegen, um sich dort in den Lehren des Yoga zu vertiefen und sein Examen vorzubereiten. Er sucht immer noch nach Menschen, die sich ihm anschließen wollen.
Ihr seid willkommen, ihn zu begleiten. Oder euren ganz eigenen Weg zu gehen.