Die Diagnose „Anpassungsstörung“ bedeutet nicht, dass wir uns mehr anpassen sollen.
Die dümmste Diagnose in der Psychiatrie ist gleichzeitig eine der häufigsten. Dass wir auf belastende Ereignisse in unserem Leben emotional reagieren, wird jedem einleuchten. Diese Reaktionen umfassen, wenn sie ausgeprägter sind als „normal“, Angst, Depression, Gereiztheit, sozialer Rückzug, Schlafstörungen, Gedankenkreisen und anderes mehr.
Dass ich „normal“ in Anführungszeichen gesetzt habe, hat seinen Grund. Die „Normalität“ einer Reaktion auf Belastungen ist schwer zu definieren. Wenn z.B. ein Haustier stirbt, hängt die Reaktion des Besitzers von vielen Faktoren ab: Wie alt war das Tier? Hat es den Besitzer durch schwierige Lebensphasen begleitet? War es treu, als sich alle Freunde abgewendet hatten? War es der einzige Trost in schweren Zeiten? Oder war das Tier lästig, hat die Urlaubsplanung erschwert, hat viel Geld gekostet und die Wohnung verunreinigt?
Kriterien für eine Anpassungsstörung
In diesem Spektrum zwischen einer von außen noch als „normal“ oder schon als „übertrieben“ gewertete Reaktion auf Belastungen findet sich die dümmste Diagnose der Psychiatrie: Die Anpassungsstörung (ICD F43.2).
Hier sind die diagnostischen Kriterien der ICD 10, durch die eine Anpassungsstörung charakterisiert ist (nach Wikipedia):
A. Identifizierbare psychosoziale Belastung, von einem nicht außergewöhnlichen oder katastrophalen Ausmaß; Beginn der Symptome innerhalb eines Monats.
B. Symptome und Verhaltensstörungen, wie sie bei affektiven Störungen (F3) (außer Wahngedanken und Halluzinationen), bei Störungen des Kapitels F4 (neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen) und bei den Störungen des Sozialverhaltens (F91) vorkommen. Die Kriterien einer einzelnen Störung werden aber nicht erfüllt. Die Symptome können in Art und Schwere variieren.
C. Die Symptome dauern nicht länger als sechs Monate nach Ende der Belastung oder ihrer Folgen an, außer bei der längeren depressiven Reaktion (F43.21). Bis zu einer Dauer von sechs Monaten kann die Diagnose einer Anpassungsstörung gestellt werden.
Früher war mehr Reaktion
Von dem Fachchinesisch, das vor allem unter Punkt B aufgeboten wird, soll sich bitte niemand verwirren lassen. Die Quintessenz ist: Es passiert etwas in unserem Leben, und wir reagieren darauf mit einem krankheitswertigen Zustand.
Früher, also zu Zeiten der neunten Revision der Diagnosesammlung ICD, hieß die Anpassungsstörung noch „psychogene Reaktion“. Das ist zwar auch nicht sehr schick, aber es sagt deutlicher, worum es sich handelt.
Was habe ich gegen die Formulierung „Anpassungsstörung“?
Mal angenommen, Sie bekommen diese Diagnose. Was wird Ihre Reaktion sein? „Anpassungsstörung, hmmm, das heißt ich muss mich besser anpassen, oder wie?“ So reagieren sehr viele Menschen.
Letztlich ist gemeint, dass es bei dieser Diagnose nicht gelingt, sich innerhalb einer bestimmten Zeit an die geänderten Lebensumstände anzupassen. Das wiederum setzt voraus, dass jeder, der sich, um beim obigen Beispiel zu bleiben, nicht an ein gesellschaftlich akzeptiertes Maß an zeitlich und inhaltlich begrenzter Trauer um das Haustier hält, eine psychiatrische Diagnose bekommt. Das ist an sich schon etwas befremdlich, aber immerhin dadurch zu rechtfertigen, dass in einem solchen Fall professionelle Hilfe und Begleitung erforderlich sein könnte. Beim Vorliegen einer Diagnose zahlt das dann die Krankenkasse oder Versicherung.
Anpassen? Nein, danke.
Der eigentümliche Beigeschmack aber, den der Begriff „Anpassungsstörung“ hat, bleibt bestehen. Ich bin mittlerweile dazu übergegangen, allen Patienten, die diese Diagnose erhalten, zu erläutern, dass damit keineswegs ausgesagt werden soll, sie müssten sich besser anpassen.
Unsere Sprachwirklichkeit assoziiert mit dem Begriff „Anpassungsstörung“, dass jemand unangepasst ist.
Und genau das trifft so nicht auf Patienten mit reaktiven Störungen zu. Gemeint ist vielmehr, dass sie lernen müssen, mit der neuen Situation in ihrem Leben besser umzugehen, sie zu bewältigen, sie zu ertragen. Sich „mehr anzupassen“ wird man dagegen eher einem sozial unverträglichen Menschen nahebringen müssen.
Sprachlich missverständlich
Gerade in einer Situation, in der ich als Psychiater oft der einzige Mensch im Leben des Patienten bin, der seine ausgeprägte Reaktion auf den Tod der Katze oder des Hundes versteht, muss ich ihm die Diagnose „Anpassungsstörung“ geben. Das kann einen Keil in die Beziehung zwischen Arzt und Patient treiben. Die Zeit, die ich investiere, um meinen Patienten zu erklären, dass diese Diagnose etwas signalisiert, was keinesfalls gemeint ist, könnte ich sicher mit etwas Sinnvollerem zubringen.
Die Diagnose „Anpassungsstörung“ ist die sprachlich missverständlichste und deshalb die dümmste Diagnose in der Psychiatrie.
Peter Teuschel