Kaum ein Thema polarisiert mehr als die Verordnung von Psychostimulanzien bei ADHS im Kindes- und Jugendalter.
Selbst hier auf meiner 2. Blogheimat DocCheck werden Vorurteile zur angeblichen Häufung von ADHS-Medikamenten suggeriert. Ein Mitglied aus der Redaktion möchte uns vermitteln, dass es einen Trend zu einer geringeren Verordnungshäufigkeit von Psychostimulanzien in der multimodalen Therapie der ADHS gibt. Ich frage mich gerade, ob man eine ähnliche Meldung auch im Bereich Asthma bronchiale oder Diabetes mellitus durch eine Redaktionsprüfung bekommen würde. Angenommen man würde ermitteln, dass weniger Kinder und Jugendliche nach den Leitlinien der Fachgesellschaften mit Dosieraerosolen behandelt oder mit Ernährungsberatung, Blutzuckerselbstkontrolle und Insulin bei Diabetes mellitus Typ I behandelt würden. Würde man dann eine Newsletter-Nachricht schreiben, dass eine weniger Therapie bzw. weniger Umsetzung der Leitlinien einen potentiellen Nutzen für die weitere Lebensqualität und Entwicklung der Kinder hat ?
Zu keinem anderen kinder- und jugendpsychiatrischen Krankheitsbild sind in Untersuchungen die Bedeutung der Pharmakotherapie hinsichtlich Nutzen und Nebenwirkungsprofil so gut untersucht wie bei ADHS. Gerade im Vergleich zu psychosozialen Therapieangeboten, jegliche Formen der Psychotherapie oder medikamentösen Alternativen ist wissenschaftlich klar belegt, dass die Medikation der Goldstandard darstellt. In Deutschland gibt es zwar eine Übereinkunft aller Experten, dass dieser Goldstandard immer im Rahmen einer multimodalen Therapie (d.h. Aufklärung, Elterntraining) und möglichst auch in Kombination und / oder nach einer Verhaltenstherapie angeboten sein sollte. Klar ist aber für Verhaltenstherapeuten wie Fachgesellschaften, dass ein Verhaltenstherapie ohne Medikation in aller Regel frustran verlaufen muss. Nicht zu reden von endloser Ergotherapie oder anderen ebenfalls nicht evidenz-basierten Therapievorstellungen.
Wenn man also stolz darauf ist, dass in Deutschland oder Teilen von Deutschland WENIGER evidenzbasierte Pharmakotherapie bei ADHS erfolgt feiert man einen Rückschritt.
Werden denn nun zu häufig ADHS-Diagnosen gestellt ?
Auch hier gilt, dass häufig Vorurteile die Meinungsbildung beherrschen. Die weltweite Prävalenz von ADHS bei Kindern liegt je nach verwendeten Diagnosesystemen bei ca 4,7 Prozent. Würde man den unaufmerksamen Subtyp (speziell auch bei Mädchen) berücksichtigen, werden bis zu doppelt so hohe Häufigkeitsangaben im Kindes -und Jugendalter angegeben. In allen Studien für Deutschland liegt aber der Anteil der medikamentös behandelten Kinder und Jugendliche eher im Promillebereich. Sicher muss nicht jedes Kind oder Jugendlicher mit gesicherter ADHS-Diagnose auch mit Stimulanzien therapiert werden. Die in der Öffentlichkeit diskutierten Überschriften auch bei DocCheck legen aber Nahe, dass eine Überverordnung passiert. Weit gefehlt : In vielen Regionen bzw. auch Fachabteilungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie werden eben die eigenen Leitlinenempfehlungen ignoriert, ja die blosse Existenz der Diagnose in Frage gestellt. Hier erfolgt dann eben gerade keine evidenzbasierte Behandlung. Die Kinder und ihre Familien werden eben dann auf eine auf Meinungen und veralteten Einstellungen fussende Überzeugungsmedizin zurückgeworfen. Nicht aber ein Behandlungsangebot nach modernen Kriterien im Sinne von Wissenschaftlichkeit gemacht. Das finde ich traurig.
Kritik nicht an der Verordnung sondern an der Begleitung
Wenn man Kritik an dem Einsatz von Medikamenten im Kindes- und Jugendalter bei ADHS üben will und muss, dann weniger an der Verordnung bzw. der klaren Indikationsstellung. Kritik muss an der mangelhaften Begleitung der Familien hinsichtlich Aufklärung, Einnahme und Überwachung und den einsetzenden Veränderungen im Verlauf der Therapie geübt werden. Natürlich wäre es erforderlich, dies mit familientherapeutischen Angeboten zu kombinieren. Einerseits weil die hohe genetische Prädisposition eben dazu führt, dass ein oder beide Elternteile auch ADHS haben. Unbehandelt wird dann die Adhärenz hinsichtlich der Therapie bzw. regelmässige Abgabe der Medikation sicher erschwert sein. Andererseits aber auch, weil häufig eben weitere Geschwister bzw. das Familiensystem unter der Gesamtsituation leidet. Und hier zeigen wiederum die Untersuchungen, dass die Lebensqualität mindestens so stark in den Familien reduziert ist, wie eben bei anderen chronischen Erkrankungen wie Asthma oder Diabetes.
Gerade heute habe ich mit einem Kollegen (Familientherapeut) in der Kinder- und Jugendpsychosomatik eine Familie diskutiert, deren Indexpatient mit Elvanse behandelt wird. 2 Adoptivschwestern fallen aber mit Trennungsängsten auf. Die Familie sucht seit Monaten nach Unterstützung und Hilfe, da jetzt bei allen 3 Kindern eine Zunahme von Symptomatik auffällt. Hier wären übergreifende Angebote erforderlich. Doch gerade hier mauern dann die Kostenträger bisher.
Die Behandlung beschränkt sich also auf Kontakte mit der örtlichen Kinder- und Jugendpsychiatrie im Quartalsabstand zur Überprüfung der Medikation.
Nicht weniger Therapie ist die Antwort. Sondern eine multimodale Unterstützung der betroffenen Familien.