Der Mann mittleren Alters, das unbekannte Wesen? Zumindest für das Sexleben scheint das zu gelten. Doch die German Male Sex-Study (GMS) könnte dies nun ändern. Die Ergebnisse bieten reichlich Ansätze für den Ärztealltag.
Sex als „Basis“-Funktion des Mannes? So zumindest bilden es die Studien reihenweise ab. Das Sexualverhalten von Männern wurde darin fast gänzlich als Veränderung der Libido und Sexualfunktion nach operativen Eingriffen betrachtet. Sexualverhalten in Verbindung mit Krankheitsbildern? Betroffen sind ja ohnehin nur ältere Männer jenseits des Renteneintrittsalters, so die öffentliche Meinung.
Das andere Extrem sind Studien, die sich mit den Veränderungen der Sexualität an der Grenze vom Kind zum Jugendlichen beschäftigen. Daran schließen sich Arbeiten zu männlichem sexuellem Risikoverhalten und Geschlechtskrankheiten fast nahtlos an.
Doch was ist mit dem gesunden Mann mittleren Alters? Gibt es den überhaupt? Wenn ja, was wissen wir über ihn? – Beinahe nichts, zumindest was die Sexualität angeht. Dazu existierten bislang einfach kaum Daten.
Sexuelle Orientierung ist nicht gleich Sexualverhalten
Bereits aus früheren Studien zur sexuellen Orientierung ist bekannt, dass diese ganz erheblichen Einfluss auf das Sexualverhalten eines Mannes nimmt. Dennoch spielt die sexuelle Orientierung in vergleichenden Studien oder im Praxisalltag eine eher untergeordnete Rolle. Dass sich dies zukünftig ändern muss, zeigen erste Daten der gerade in Auswertung befindlichen German Male Sex-Study, die Cand. med. Hannes Angerer anlässlich des 68. DGU-Kongresses in Leipzig vorstellte. Die Datenerhebung fand zwischen 2014 und 2015 an vier deutschen Zentren statt, in Heidelberg, Düsseldorf, Hannover und München. Insgesamt wurden Daten von 9.603 Männern im Alter von 45 Jahren erhoben. Davon bezeichneten sich 95 % als heterosexuell, 1,1 % als bisexuell und weitere 3,9 % als homosexuell.
Erste sexuelle Erfahrungen wann und mit wem?
Im Hinblick auf die sexuellen Erfahrungen mit Männern und/oder Frauen gab es deutliche Unterschiede zwischen den drei Gruppen. Die überwiegende Mehrheit der hetero- (96 %) und bisexuellen Männer (91 %) gab an, sexuelle Erfahrungen mit einer Frau gemacht zu haben. Und selbst bei den homosexuellen Männern berichteten noch 46 % über erste Erfahrungen mit Frauen.
Dies zeigt deutlich, dass sich die sexuelle Identität durchaus von der gelebten Sexualität unterscheiden kann. Gründe dafür sind beispielsweise Angst vor Ausgrenzung, Stigmatisierung oder sozialer Isolation. Interessanterweise hatten 1,6 % der heterosexuellen Männer in ihrem Leben ebenso erste sexuelle Erfahrungen mit anderen Männern gesammelt; bei den Bisexuellen waren es fast 80 %.
Im Durchschnitt wurden die ersten sexuellen Erfahrungen mit Frauen in allen drei Gruppen in einem Alter von etwa 18 Jahren gemacht. Bis zum ersten sexuellen Kontakt mit Männern dauerte es in der Regel zwei Jahre länger, dieser erfolgte durchschnittlich um das 20. Lebensjahr herum. Bisexuelle Männer brauchten dafür sogar drei Jahre mehr (23. Lebensjahr) als hetero- und homosexuelle Männer.
Sexuelle Identität und Anzahl der Sexpartner
Darüber hinaus untersuchte die Studie die Anzahl der Sexualpartner im gesamten bisherigen "sexuellen" Leben des 45-jährigen deutschen Mannes. Etwa 71 % der heterosexuellen sowie 49 % der bisexuellen Männer brachten es auf 0–10 Sexualpartner. Bei den homosexuellen Studienteilnehmern waren dies nur 29 %. Etwa jeder vierte Mann kam gruppenunabhängig im Durchschnitt auf 11–30 Sexualpartner im Leben.
Interessant wurde es wieder bei > 30 Sexpartnern im Leben. Hier hatten die homosexuellen Männer deutlich die Nase vorn: etwa 45 % von ihnen gaben an, mit mehr als 30 Partnern Sex gehabt zu haben. Bei Bisexuellen war es noch jeder vierte Mann, der dies ebenso erklären konnte. Bei den heterosexuellen Männern zeigten jedoch nur knapp 6 % ein solch „intensives“ Sexualverhalten.
Ich weiß, was Du die letzten drei Monate getan hast...
Die zuvor genannten Zahlen drücken natürlich noch nichts über die tatsächliche sexuelle Aktivität und Erfolgsquote der Männer aus. Dafür zitierte Angerer seine Daten zur sexuellen Aktivität des Mannes in den letzten drei Monaten sowie aktuelle Zahlen zum Masturbationsverhalten. Bei letzterem zeigten sich einige interessante Unterschiede - aber der Reihe nach.
Von den heterosexuellen Männern gaben 85,7 % an, in den letzten drei Monaten Sex gehabt zu haben, ebenso 85,9 % der homosexuellen Männer. Bei den Bisexuellen gab es mit rund 82 % keinen Unterschied. Und welche sexuellen Praktiken bevorzugte der 45-jährige Mann dabei?
Bei den heterosexuellen Männern überwog mit fast 98 % der vaginale Geschlechtsverkehr, dicht gefolgt vom Oralsex in 58 % der Fälle. Nur knapp 7 % hatten analen Verkehr. Bei den Bisexuellen hatten jeweils circa 75 % vaginalen oder oralen Sex und 35 % anal. Die homosexuellen Männer gaben zu 90 % oralen Verkehr an, zu 64 % analen Sex und immerhin noch zu fast 10 % vaginalen Geschlechtsverkehr.
Interessant ist darüber hinaus das in der German-Male-Sex-Study untersuchte Masturbationsverhalten der 45-jährigen Männer. Generell gilt dabei, dass mehr als 90 % aller Single-Männer mittleren Alters, und zwar unabhängig von ihrer sexuellen Identität, innerhalb der vergangenen drei Monate masturbiert hatten. Spannend ist aber vielmehr, dass der Beziehungsstatus für homo- und bisexuelle Männer keinen signifikanten Einfluss auf das Masturbationsverhalten zu haben scheint. Denn in diesen beiden Studiengruppen hatten sich weiterhin knapp 90 % der Probanden in den letzten drei Monaten selbstbefriedigt, obwohl sie angaben, in einer festen Partnerschaft zu leben. Bei den heterosexuellen Männern nahm die Zahl der Masturbierenden signifikant auf etwa 76 % ab, wenn sie sich in einer Partnerschaft befanden.
Bringt die Aktivität Vorteile für die sexuelle Gesundheit?
Hinweise darauf, dass sexuelle Aktivität bis ins hohe Alter auch die sexuelle Gesundheit, insbesondere die urogenitale Gesundheit, fördern kann, gibt es seit vorchristlicher Zeit. Bereits die alten Chinesen, sofern man der Interpretation Giovanni Maciocias folgt, sahen den Penis als den sogenannten "Ancestral Muscle" (Zong Jin) an. Einen Muskel kann man bekanntermaßen trainieren und so seine Funktion erhalten. Dass diese Denkweise nicht grundlegend falsch ist, obgleich der Penis anatomisch gesehen natürlich kein Muskel ist, zeigen Daten aus neuerer Zeit.
Die Gay-Men-Sex-Studies aus Belgien untersuchten beispielsweise die Inzidenz der erektilen Dysfunktion (ED) in einem Kollektiv von 1752 Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), im Alter von 18 bis > 60 Jahren. Wie zu erwarten war, litten ältere Männer sehr viel häufiger unter einer ED. Gleiches traf auf MSM zu, die Probleme mit ihrer Ejakulation hatten. Interessanterweise gaben MSM in stabiler Partnerschaft oder mit häufigem und regelmäßigem Sex sehr viel weniger oft Erektionsstörungen an.
Die German-Male-Sex-Study trifft hierzu leider derzeit noch keine Aussagen. Dennoch stellte Hannes Angerer in Aussicht, dass aufgrund des prospektiven Designs der Studie mit einem Follow-up von 15 Jahren zukünftig auch Daten aus anderen Altersstufen ausgewertet werden können. Dadurch ließen sich dann Veränderungen der männlichen Sexualität je nach sexueller Identität auch im zeitlichen Verlauf verfolgen und auswerten. Wer also das 45. Lebensjahr heute noch nicht erreicht hat oder bereits jenseits davon liegt, denen sei gesagt: Es könnte in Zukunft auch für Ihre Altersklasse spannende Ergebnisse zur männlichen Sexualität geben.
Und was heißt das nun alles für die ärztliche Praxis?
Im Angesicht der Ergebnisse zeigt sich, wie wichtig eine gut durchgeführte Sexualanamnese im ärztlichen Alltag ist. Ganz ehrlich, wäre es nicht sehr viel einfacher, einem Mann von 45 Jahren mit mehr als 30 Geschlechtspartnern in seinem Leben eine hypersexuelle Störung bis hin zur Sexsucht zu diagnostizieren – und das ohne genauere Kenntnis der sexuellen Identität des Patienten?
Anders liegt jedoch der Fall, wenn es sich um einen homosexuellen Mann handelt. Für ihn stellt die Promiskuität, den Studiendaten nach zu urteilen, einen Normalzustand dar. Durch das Wissen um diese Zusammenhänge ändern sich Diagnose, Behandlung und eventueller Beratungsbedarf doch grundlegend.
Das Sexualverhalten wird erheblich von der sexuellen Orientierung beeinflusst. Umso wichtiger ist es, dies beim Arzt-Patienten-Kontakt im Hinterkopf zu haben und dann – nicht wertend oder vorverurteilend – angemessen damit umzugehen.
Quelle:
Angerer H, 68. Kongress der DGU 2016, Vortragssitzung vom 30.09.2016, Leipzig
Vansintejan J et al., The GAy MEn Sex StudieS (GAMESS): erectile dysfunction among Belgian gay men International Journal of General Medicine 2013; 6: 527-534