Die Gedankenwelt der so genannten „Reichsbürger“ weicht stark von der Realität ab. Aber sind sie deshalb wahnkrank?
Am 19.10.2016 wurde im bayerischen Georgensgmünd ein Polizist von einem so genannten „Reichsbürger“ erschossen. Dem Mann war zuvor der Waffenschein und die Waffenbesitzkarte aberkannt worden.
Aus psychiatrischer Sicht macht es Sinn, sich die Gedankenwelt der „Reichsbürger“ daraufhin anzuschauen, ob hier eine wahnhafte Überzeugung vorliegt, die unter Umständen forensische Relevanz hat.
Es ist anzunehmen, dass der Täter von Georgensgmünd psychiatrisch begutachtet werden wird. Ich bin sehr gespannt auf dieses Gutachten.
Um sich der oben gestellten Frage anzunähern, müssen zwei Begriffe geklärt werden:
Zwischen Wahn und Verschwörungstheorie
1. Die „Reichsbürger“ sind eine inhomogene Gruppe, aufgesplittert in diverse Zusammenschlüsse ohne feste und vereinende Strukturen. Ihnen allen ist aber die Überzeugung gemein, das Deutsche Reich würde trotz Gründung der Bundesrepublik Deutschland weiterbestehen.
Daraus ergeben sich eine Reihe von Annahmen, beispielsweise dass deutschen Gerichtsbarkeiten sowie die deutsche Regierung keine rechtsverbindlichen Beschlüsse fällen könnten. In dieses von den „Reichsbürgern“ postulierte Rechtsvakuum hinein wurden und werden verschiedene „Übergangsregierungen“ oder „Selbstverwaltungen“ gegründet. Aus der Annahme, die Bundesrepublik Deuschland sei eine GmbH ergibt sich in der Gedankenwelt der „Reichsbürger“ die Konsequenz, alle Bewohnener Deutschlands seien das Personal dieser GmbH. Dies sei erkennbar an der Existenz des Personalausweises.
2. Der Wahn ist eines der Kernthemen der Psychiatrie. Das Diagnostizieren eines Wahns ist das „tägliche Brot“ der Psychiater. Wahnsymptome kommen bei vielen psychischen Störungen vor, in erster Linie wird man hier an die schizophrenen Erkrankungen denken. Aber auch bei Depressionen, Manien und als isolierte Störung findet man den Wahn als Symptom. Bei dieser Häufigkeit ist es durchaus bemerkenswert, dass eine griffige und eindeutige Definition des Wahns schwer fällt. Als Wahnkriterien werden meist die von Karl Jaspers 1913 formulierten Punkte genannt:
Wahnhafte Gedankeninhalte?
Während die ersten beiden Kriterien in den allermeisten Fällen eindeutig vorliegen und die Diagnose in Richtung eines Wahns lenken, ist der letzte Punkt manchmal schwieriger zu beurteilen. Je bizarrer die Vorstellungswelt des Patienten ist, desto eher wird Konsens darüber herrschen, ob seine Gedankeninhalte wahnhaft sind oder nicht.
Fühlt sich die oder der Betreffende beispielsweise von einer Allianz aus russischen, amerikanischen und außerirdischen Geheimdiensten verfolgt, so wird niemand an der „Unmöglichkeit des Inhalts“ zweifeln. Wie aber sieht es zum Beispiel beim Eifersuchtswahn aus? Dass der Partner fremd geht, ist nicht so unwahrscheinlich wie eine Invasion von der Wega. Im extremen Fall besteht eine unkorrigierbare und durch keinerlei Indizien gestützte Überzeugung, der Partner gehe fremd und dieser geht dann tatsächlich fremd. In einem solchen Fall kann ein Wahn vorliegen, der sich, was die Fakten betrifft, mit der Realität deckt.
Diagnose „Wahn“ – alles andere als einfach
Je „vorstellbarer“ das Szenario, von dem der Patient überzeugt ist, desto schwieriger ist die Diagnose eines Wahns. Umso gründlicher muss also der Arzt recherchieren und umso zurückhaltender wird er mit der Diagnose „Wahn“ umgehen.
Treten zum vermuteten Wahn noch andere Symptome hinzu, wie beispielsweise Stimmenhören oder Ich-Störungen wie Gedankeneingebung oder das Gefühl, von außen gesteuert zu sein, dann wird die Einschätzung wieder leichter. In den meisten Fällen schizophrener Psychosen ist dies der Fall.
Es gibt aber eine Diagnosegruppe, die sich dadurch auszeichnet, dass ein isolierter Wahn vorliegt, der sich nur auf einen einzigen Lebensbereich erstreckt. Dies sind die sogenannten „wahnhaften Störungen“, die in der ICD 10 unter F22 kodiert sind. Sie werden bei weitem nicht so häufig diagnostizert wie die Schizophrenien, was zwei Gründe haben kann: Entweder sind sie nicht häufig oder sie werden oft übersehen.
Patienten mit wahnhaften Störungen sind im normalen Leben oft unauffällig und angepasst. Abgesehen von ihren wahnhaften Denkinhalten „funktionieren“ sie in Beruf und gelegentlich auch im privaten Bereich so weit, dass sie nicht auffallen. Therapeutisch sind diese Patienten schwer zu behandeln – wenn sie denn überhaupt als Patienten in Erscheinung treten.
Leugnung der Realität = Wahn?
Bringt man nun die Wahnkriterien und die „Reichsbürger“ zusammen, dann ergibt sich die Frage, ob die Leugnung der Realität – nämlich der Tatsache, dass die heutige Bundesrepublik das Deutsche Reich abgelöst hat – ein Wahnkriterium sein könnte.
In dieser Formulierung ist die Antwort bereits enthalten: Die Leugnung der Realität ist nicht gleichbedeutend mit einer wahnhaften Verkennung der Realität. Bei den „Reichsbürgern“ tritt an die Stelle einer realen Wahrnehmung der heutigen Verhältnisse die Übereinstimmung mit einer Verschwörungstheorie. Diese ist eine im Zeitalter modernener Medien „von außen“ bereitgestellte Überzeugung. Im Gegensatz zum Wahn, der seinen Ursprung im Inneren der individuellen Psyche hat, ist die Verschwörungstheorie eine Denkschablone, ein vorgefertigtes Schnittmuster, wie man die Welt verkennen kann.
Die bewusste Verweigerung, anerkannte Tatsachen zu akzeptieren, ist ebenfalls etwas anderes als ein in sich abgeschlossenes Denksystem, das der einzelne gar nicht mehr hinterfragen und auf seinen Realitätsgehalt hin überprüfen kann.
Wahnentwicklung im irrealen Umfeld
Also: „Reichsbürger“ sind nicht von von vorneherein wahnhaft. Sie frönen einer Weltansicht, die sie willentlich und in Abkehr von der heute allgemein akzeptierten Realität wählen. Gleichwohl ist es durchaus vorstellbar, dass in einem so irreal anmutenden Umfeld wie der gedanklichen Welt der „Reichsbürger“ der eine oder andere tatsächlich einen Wahn entwickelt. Dieser ist dann aber wiederum höchst persönlich und beruht auf dem so schwer in Worte zu fassenden Prozess, bei dem eine maximal subjektive Realität den Zugriff auf die allgemein akzeptierte unmöglich macht.
Die Entscheidung, ob der Täter von Georgensgmünd an einer wahnhaften Störung (oder einer anderen Form einer schwerwiegenden psychischen Störung) leidet, wird also der Einzelfallprüfung, in diesem Fall dem psychiatrischen Gutachten, überlassen sein.
Peter Teuschel
Bildquelle (Außenquelle): Ian Mackenzie, flickr