„Ich finde es voll gut, dass du schon jetzt zu Anfang des Studiums sagst, du könntest dir vorstellen, Hausärztin zu werden. Für die meisten ist das dann ja doch nur ein Plan B...“ (eine Kommilitonin, wir waren damals im 2. Semester)
„Allgemeinmedizin? Ja klar, in der Praxis arbeiten, kann ich verstehen. Aber ehrlich, du musst darauf gefasst sein, dass du dann auf die ganzen Leute triffst, die nichts können ...“ (eine Studentin aus Heidelberg, Vorklinik)
„Ich weiß nicht, also Landarzt werden, auch mit den ganzen Kampagnen, davor hab ich großen Respekt, denn da bist du dann auf weiter Flur der einzige, der da ist, bis Unterstützung kommt ... Überleg mal, was das für eine Verantwortung ist!“ (ein Kommilitone im dritten Studienjahr)
„Naja, also wenn schon Allgemeinmedizin, dann mach mal den Facharzt für Innere. Dann bist du wirklich gut vorbereitet. Danach kannst du dich dann immer noch niederlassen und die hausärztliche Betreuung übernehmen.“ (eine Freundin, kurz vor dem Examen)
„Hast du dich jetzt eigentlich schon auf eine Facharztrichtung festgelegt?“ (nein, hatte ich nicht, das macht man nicht während des Studiums, sondern erst danach... hatte ich dir glaube ich auch schon mindestens zweimal erzählt, naja) „Ach, Allgemeinmedizin interessiert dich? Aber ganz ehrlich, das ist doch bestimmt frustig, eigentlich kannst du nichts und verweist die Leute nur weiter an einen Spezialisten oder?“ (eine Bekannte, selbst in der Wirtschaft tätig.)
Der Ruf ist nicht unbedingt der beste
Was soll ich dazu sagen. Eher abwertende Kommentare kommen durchaus auch aus den eigenen Reihen. Wir Medizinstudenten werden an der Uni ausgebildet, Allgemeinmedizin ist nur eins der vielen klinischen Fächer, die unterrichtet werden. Auf Station und in Fallbeispielen lernen wir seltene und spezielle Hautkrankheiten, ZNS-Tumore, kindliche Fehlbildungen kennen, neben den häufigen Erkrankungen, die so oft auftauchen, dass man sie fast schon ein wenig Leid ist. Hypertonus (Bluthochdruck), Dyslipidämie (Fettstoffwechselstörung), Diabetes (Zucker), Adipositas (Fettleibigkeit). Die mit diesen Krankheiten verbundenen Herz-Kreislaufrisiken. Für einen niedergelassenen Allgemeinmediziner entspricht das durchaus dem täglich Brot - mit Blick aus der Uni erscheint es uns ziemlich langweilig. Denn die ganzen seltenen, „interessanten“ Sachen sind ja tatsächlich in Facharzthänden aufgehoben!
Keine Langeweile
Als ich das erste mal in einer Vorlesung eines Allgemeinmediziners sitze, bin ich angetan, weil dieser direkt mit einigen der Vorurteilen aufräumt, die ich seit Jahren immer wieder höre. Als Internist in die hausärztliche Betreuung einsteigen? „Klar, kann man machen. Aber dann sollte einem schon bewusst sein, dass nur 30% der Patienten ein internistisches Problem haben.“ Zum Beispiel kommen sehr viele Patienten mit Schmerzen am Bewegungsapparat. Damit kann ein Internist in der Regel nicht all zu viel anfangen. Und natürlich verweist man als Hausarzt auch Patienten an Kollegen.
Aber langweilig? Als Allgemeinmediziner sieht man das große Bild und nicht nur einen kleinen torselektierten und hochspezialisierten Ausschnitt. Und was da interessant und was langweilig ist, das ist wohl individuelles Ermessen.
Doch zurück zu den Schmerzen am Bewegungsapparat. Heute geht es um Manuelle Medizin, im Volksmund auch als Ostheopathie oder Chirotherapie bekannt. Die Jünger beider Schulen scheinen der Auffassung zu sein, dass es zwischen beiden Methoden mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten gibt - unser Professor, ein Allgemeinmediziner, sieht dagegen eher die Gemeinsamkeiten. „Sehr ähnlich. Das eine etwas sanfter und vorsichtiger als das andere. Wobei es da auch innerhalb einer Disziplin unterschiedliche Schulen gibt. Aber die Ergebnisse sind vergleichbar und wirkliche Risiken gibt es bei keiner.“
Auch das machen Allgemeinmediziner. Oder können sie machen.
Ich hatte eigentlich immer gedacht, dass diese Art der Behandlung von nicht-Medizinern angeboten wird, beispielsweise Physiotherapeuten, die sich speziell weitergebildet haben. Oder wenn überhaupt Orthopäden. Was ich heute lerne: Auch jeder Arzt in Deutschland kann sich fortbilden und nach bestandener Prüfung vor der Bundesärztekammer die Zusatzbezeichnung „Manuelle Medizin“ führen. Und wichtiger: seine Patienten, die mit blockierten Wirbeln oder Schmerzen im Ileo-Sakralgelenk kommen, behandeln. (Orthopäden haben aufgrund ihrer Ausbildung natürlich gute Voraussetzungen, sich die Manipulationen anzueignen und gekonnt umzusetzen - fester Bestandteil ihres Facharztkurrikulums ist Manuelle Medizin aber nicht.)
Ich bin angetan. Neben Kommunikationsfähigkeiten und dem gekonnten Umgang mit Patienten verstehe ich den Beruf Arzt nicht nur als einen wissenschaftlichen, sondern in vielerlei Hinsicht auch als ein Handwerk. Dabei denke ich nicht nur an die Chirurgie, sondern auch die Auskultation oder die körperliche Untersuchung im Allgemeinen. Darüber hinaus gibt es aber scheinbar noch viele weitere Handgriffe, die wir im Studium nicht automatisch angeboten bekommen, die wir uns aber durchaus noch aneignen können. Um später dann nicht bei jedem Rückenschmerz an den Orthopäden oder schlimmstenfalls den Radiologen zu überweisen, sondern selbst therapieren zu können.
Berufswunsch Allgemeinmedizin
Hochmotiviert, diese Skills zu erlernen, habe ich immer mehr das Gefühl, dass Allgemeinmedizin für mich nicht eine Verzweiflungs- sondern eine echt Wunschwahl werden könnte. Dieser Fachbereich scheint mir am besten dazu geeignet, meinen vielseitigen Interessen Raum zu bieten und beispielsweise alternative und komplementäre Heilverfahren anzuwenden, wie auch die Manuelle Medizin. Auf Land zieht es mich momentan nicht, da wird mich auch der buntbedruckte Becher oder der Jutebeutel nicht umstimmen, die die Werbepartner der Kassenärztlichen Vereinigung mir samt Kuchen und Kaffee angeboten haben. Dann schon eher die tolle Arbeit der Hausärzte, denen ich bei meiner Famulatur über die Schulter schauen durfte.
Um den theoretischen Teil der Veranstaltung abzuschließen, bevor es zu einigen praktischen Untersuchungen und Tests geht, hat unser Professor noch ein weiteres Argument parat. Und zwar ist die Arzt-Patienten-Beziehen allgemeinmedizinischen Versorgung eine ganz besondere. „Denn immerhin“, unser Prof grinst breit, „hält die Beziehung zum Hausarzt länger als eine durchschnittliche Ehe in Deutschland.“
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