Dr. Ilka Enger, die dritte Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB), hat am 1. Oktober im Alleingang das sogenannte Neubauer-Gutachten veröffentlicht, das zuvor von der KVB über ein Jahr unter Verschluss gehalten worden war. Verdächtig, nicht wahr? Was ist so geheimnisvoll an diesem Dokument? Dazu zwei Erläuterungen.
Erstens: Professor Dr. Günter Neubauer war von 1987 bis 1990 Mitglied der Enquête-Kommission „Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung“ des Deutschen Bundestages, bevor er von 1991 bis 1998 dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen angehörte. Bis er im Jahr 2006 seinen Ruhestand antrat, lehrte er Volkswirtschaft mit den Schwerpunkten Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement an der Universität der Bundeswehr in München.
Aktuell ist der Pensionär Direktor des „Instituts für Gesundheitsökonomik München (IfG)“. Just jene Einrichtung wurde von der KVB beauftragt, zu untersuchen, wie sich eine Praxis mit den Einnahmen aus den Beiträgen der Kassenpatientenwirtschaftlich betreiben lässt.
Kein Zweifel: Ärzten geht es schlecht
Zweitens: Was steht drin in diesem Gutachten? Es umfasst mehrere hundert Seiten Text und hat die Frage nach der Wirtschaftlichkeit der Praxen aus der Versorgung durch „Kasse“ für die Jahre 2010 und 2013 untersucht, ist also nicht mehr ganz aktuell. Das Hauptresultat: Den nicht-operativ tätigen Ärzten auf dem Land geht es besonders schlecht. Allen voran in den Disziplinen Frauenheilkunde, Orthopädie, Urologie, Hautkrankheiten, Augenheilkunde und HNO. Je nach Fachgruppe erstatteten die gesetzlichen Krankenkassen 2013 zwischen 58 und 191 Prozent zu wenig pro Patient – die Zahlen für 2010 waren noch verheerender.
Erstmals wurde von einem neutralen Gutachter schwarz auf weiß bestätigt, was eigentlich jeder betroffene Mediziner weiß: die Kassenarztpraxis ist ein Draufzahlgeschäft – auch wenn es die meisten Patienten nicht glauben wollen und Politiker sowie Krankenkassen vehement abstreiten, dass Ärzte zu wenig verdienen. Die jungen Mediziner haben es hingegen längst kapiert. Warum sonst finden sich für so viele Praxen keine Nachfolger? (Achtung, liebe Jungkollegen, die ihr euch doch zur Niederlassung überreden lassen habt: Das böse Erwachen kommt erst nach sieben Jahren! Dann sind die Abschreibungen gelaufen und der Fiskus schlägt mit ungeahnter Härte zu).
Nachdem das geklärt ist, verrate ich Ihnen nun, worüber ich mir aufgrund des Gutachtens monatelang das Hirn zermartert habe: Was dabei rauskommt, war jedem niedergelassenem Arzt klar. Dass diese Ergebnisse – von einem renommierten Mann wie Dr. Günter Neubauer erarbeitet – in ständigen Debatten mit Krankenkassen und Politikern argumentativ einem scharfen Schwert gleichen, erscheint ebenfalls logisch. Die Gretchenfrage: Warum, um alles in der Welt, hat der Vorstand der KVB diese brisanten Daten über ein Jahr lang unter Verschluss gehalten? Wer profitierte davon?
Wieso die Geheimniskrämerei?
Ich glaube, heute hatte ich ein Aha-Erlebnis. In meinem Kopf hörte ich förmlich den Groschen fallen. Der Vorstand der KVB besteht aus drei Personen:
Natürlich mussten die genannten Vorstände den brisanten Gutachten-Text eine gewisse Zeit lang zurückhalten, um ihren Berufsverbänden ausreichend Zeit zu geben und um für die Ärzte, die Mitglieder eben dieser Berufsverbände sind, fertige Lösungen zu erarbeiten, die Wege aus der Misere aufzeigen. Mit schlichten „Das lassen wir uns nicht länger gefallen“-Parolen oder symbolischen Praxisschließungen für einen Tag (selbstverständlich mit bestens organisierter Praxisvertretung) hätte die werte Vorstandschaft ihren Mitgliedern ob der knallharten Fakten nicht mehr zu kommen brauchen.
Jetzt, nach über einem Jahr Vorbereitungszeit, können die Mitglieder der Verbände sicher Substanzielles erwarten, das den Niedergelassenen eine Existenz außerhalb des KV-Systems ermöglicht, denn dass ein Bestehen im KV-System unmöglich ist, hat das Neubauer-Gutachten ja nun bewiesen.