Konflikte werden durch Schubladendenken und Bewertungen des Gegenübers befeuert. Vor allem bei Kritikgesprächen ist es wichtig, sich erst auf Fakten, also Beobachtungen, zu einigen.
Erinnern Sie sich an die geniale US-Fernsehserie „Emergency Room“? Alles, was ich jemals über Notfallmedizin gelernt habe, verdanke ich dieser Serie.
Gleich zu Beginn führt der Chirurg den neuen Assistenzarzt durch die Notaufnahme. Als sie am Röntgen vorbei kommen, sagt er: „Da drüben sitzen die Radiologen – ein Haufen Idioten!“.
Warum er die Radiologen nicht ausstehen kann, wird in einer späteren Folge klar: Der ungeduldige und schlecht gelaunte Chirurg muss zusehen und warten, während der Radiologe seelenruhig die Thoraxaufnahme befundet. Mit viel Liebe zum Detail beschreibt er, was er genau sieht. Die Form, die Länge, die Beschaffenheit eines Fremdkörpers, alles wird notiert. Erst zum Schluss diktiert er, wie er das Gesehene interpretiert: Am ehesten entspricht es einem Projektil aus einer Schusswaffe. Entnervt atmet der Chirurg auf und schimpft: Das hätte man doch gleich sagen können!
Im Alltag wird viel etikettiert
Im Alltag nehmen wir uns oft nicht die Zeit, Beobachtungen zu äußern, obwohl es in vielen Fällen sinnvoll wäre, dies zu tun. Vielmehr meint man, es sei klar, um was es sich handelt und so wird es auch benannt. Der Kollege ist faul, der Chef unhöflich, die Verwaltung bürokratisch, die Patientin aggressiv.
Schnell haben wir alles etikettiert und jeden in die passende Schublade gesteckt.
Doch gerade dieses Denken ist oft der erste Schritt zu handfesten Konflikten. Denn unser Gegenüber lässt sich nicht gerne etikettieren. Oder er fühlt sich zu Unrecht kritisiert und wehrt sich: Der Beginn eines Streits, der durch Mitteilung von Beobachtungen vermieden werden kann. Auch wenn wir mit wütenden Menschen konfrontiert sind, hilft es, sich erstmal auf eine gemeinsame Grundlage zu verständigen: Auf das, was beobachtbar vorgefallen ist und dem beide zustimmen können.
Wie schnell es sonst zu Missverständnissen und Konflikten kommen kann, sollen einige Beispiele zeigen:
Die vergessliche Patientin
Wie reagiert wohl die Patientin, die im Bett liegt und zu der man sagt: „Sie haben vergessen, Ihre Tabletten zu nehmen“?
Wie kommen Sie drauf, dass sie die Medikamente vergessen hat? Teilen Sie Ihrem Gegenüber erst mit, was Sie beobachten, also was Sie zu einer möglichen Schlussfolgerung (Bewertung) führt: „Auf Ihrem Nachttisch steht der Becher mit Ihren Medikamenten und ich sehe, dass die Tabletten noch drin sind“. So vermeiden Sie eine Bewertung (vergessen) und teilen dem Gegenüber nur Ihre Beobachtungen mit.
Vielleicht gab es gute Gründe für die Patientin, die Medikamente noch nicht zu nehmen? Wenn wir gleich bewerten („vergesslich“, „unzuverlässig“), fühlt sich die Patientin angegriffen und sie wehrt sich. Auf die Mitteilung der Beobachtung kann sie reagieren und erklären, was los ist. Konflikt verhindert!
Der unzuverlässige Kollege
„Du bist total unzuverlässig!“ – so könnte die Bewertung lauten, wenn der Kollege uns die 10 Euro nicht zurückgibt, die wir ihm am Montag in der Kantine geliehen haben.
Aber wer weiß? Vielleicht hat er sie uns längst ins Fach gelegt und wir haben es übersehen? Vielleicht hat er das Geld unserer Kollegin gegeben, mit der Bitte, es an uns weiterzureichen und die Kollegin hat es vergessen?
Die Mitteilung der Beobachtung verhindert den drohenden Konflikt: „Ich habe Dir am Montag in der Kantine 10 Euro geliehen und habe sie bisher nicht zurückbekommen“. Der Kollege kann zustimmen oder widersprechen, aber angegriffen fühlt er sich erstmal nicht und wehren muss er sich auch nicht. Kein Anlass für Streit und Unmut.
Der egoistische Freund
Wie fühlen Sie sich, wenn Sie verabredet sind und Ihr Freund kommt 30 Minuten später? Sind Sie vielleicht sauer und begrüßen ihn gleich mit „Du bist viel zu spät! Was soll das?“
Vielleicht aber dachte ihr Freund, Sie seien für später verabredet? Oder Sie sind es, der sich in der Zeit geirrt hat? Oder er wurde noch durch einen Notfall aufgehalten und hat gute Gründe, die er auch gerne erklären würde, statt sich gegen die Unterstellung (Bewertung) zu wehren?
Wie also würde die reine Beobachtung lauten? „Wir waren für 19.00 Uhr verabredet und nun sehe ich, dass du um 19.30 Uhr kommst und ich seit einer halben Stunde warte.“
Eine reine Beobachtung, auf die ihr Freund nun reagieren kann. Er kann Ihnen beipflichten und sich entschuldigen, er kann seine Sicht der Dinge darlegen oder erklären, warum er später kommt. Indem Bewertungen („viel zu spät“, „unzuverlässig“, „jetzt erst“) vermieden werden, sinkt das Risiko, dass es zum Konflikt kommt.
Kritikgespräche immer mit Beobachtung einleiten
Vor allem bei Kritikgesprächen ist es wichtig, mit der Beobachtung zu beginnen. So werden mögliche Missverständnisse gleich vorab geklärt, bevor vielleicht unnötig Kritik geäußert wird. Einigen Sie sich erst mit Ihrem Gegenüber auf die Fakten (Beobachtungen), bevor Sie Kritik äußern (bewerten). So lassen sich viele Konflikte und Kränkungen vermeiden.
Und jetzt?
Achten Sie darauf, wie oft in Übergaben, Besprechungen und unserer Dokumentation Bewertungen einfließen, wo eigentlich Beobachtungen hingehören. Wenn Sie jemand direkt mit einer Bewertung konfrontiert, einigen Sie sich erst mit ihm darauf, was denn tatsächlich – beobachtbar – passiert ist. Wer sich darauf einigen kann, der kann sich auch auf Lösungen einigen, ohne dass es zum Konflikt kommt.
Beobachten statt bewerten ist der erste der vier Schritte der wertschätzenden Kommunikation (Gewaltfreie Kommunikation, GFK) nach Marshall B. Rosenberg.
Mehr zu GFK und gelingende Kommunikation im Krankenhaus auf der Homepage von StrebensWert.