Bis heute betreibe ich die hausärztliche Allgemeinmedizin als „family medicine“ mit Begeisterung. Mein Vorbild ist und war seit meinem 9. Lebensjahr immer wieder unser Berliner Familienarzt für 3 Generationen, Dr. W. Bracht, Chirurg und Hausarzt aus Berufung. Was mich aber massiv stört: Wir Primärärzte werden immer mehr außerhalb unserer Kernkompetenz missbraucht und ausgenutzt.
„Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“ ist ein Satz, den ich nicht mehr hören und sehen kann! Denn verdienen kann daran nur die Pharmaindustrie, der Großhandel oder die Apotheke. Für uns bedeutet dieser Satz nur Mehrarbeit und völlig überflüssige Fragen, die uns vom patientennahen Versorgungs- und Behandlungsauftrag abhalten.
Entweder sind rezeptfreie Medikamente (OTC = „over the counter“), die ohne Probleme „über den Ladentisch“ verkauft werden dürfen, ohne unser ärztliches Zutun wirklich harmlos, unbedenklich, neben- und wechselwirkungsfrei, oder sie sind so bedenklich und unsicher, dass man jederzeit einen Arzt (kostenpflichtig?) dazu befragen müsste.
Die gesetzlichen Krankenkassen lachen sich dabei ins Fäustchen: Beim pauschalen Hausarzt-Quartalsumsatz müssen alle Fragen rund um die Selbstmedikation ebenso kostenlos wie umfassend erörtert werden. Vertragsärzte haften nun mal für die Erfüllung des Behandlungsvertrags, auch bei mündlichen Auskünften und scheinbaren Lappalien. Für die Bundesregierung, Gesundheitspolitiker jedweder Couleur, Medien und Öffentlichkeit ist die Welt damit in Ordnung: Die „gutverdienenden und vermögenden“ Hausärzte werden es schon richten, denn Fachärzte verweisen bei derartigen Fragen immer auf die Hausärzte.
Bescheinigungen und Zeugnisse
Was sollte ich als Arzt in meiner medizinischen Tätigkeit seit 1975 nicht schon alles bescheinigen! Schimmelpilze in der Wohnung, Hunde oder keine Hunde in der Wohnung, unzumutbarer Lärm im Haus und/oder auf der Straße, Umzug ärztlich erforderlich, Auszug auf keinen Fall, Haustierhaltung ja/nein/medizinisch erforderlich, Reise- und Expeditionsfähigkeit nein/ja, Tauchtauglichkeit („ein Taucher, der nicht taucht, taucht nix“), bio-psycho-soziale Behinderungen, Einschränkungen, Handycaps, rollstuhl-, fahr-, flug- und fußgängertauglich usw. usf.
Außerdem musste ich bis zum vergangenen Jahr sogar Anträge bescheinigen, die dann die Antragsstellung zur Gewährung eine REHA ermöglichten. Und die Liste ist damit noch lang nicht zu Ende. Auch unzählige Schul- und Prüfungs-(un)fähigkeitsbescheinigungen, Verhandlungs-, Vernehmungs- und Haftfähigkeitsbescheinigungen, Trennung- oder Nichtrennung von Eltern, Kindern, Partnern und Lebensabschnittsgefährten, schul-, sport- und schwimmtauglich etc. pp. gehören dazu.
Massenweise Krankschreibungen bei TUI-fly
Der Gipfel sind die jüngsten Massen-Krankschreibungen beim Reiseveranstalter TUI-fly. Weil man offensichtlich zu feige und zu unentschlossen war, einen offenen Arbeitskampf zu führen bzw. ein Streikaufruf aussichtslos erschien, wurde reihenweise das ärztliche Vertrauensverhältnis missbraucht, um sich durch einigermaßen authentische Symptomschilderung ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu erschleichen. Das ist meines Erachtens Betrug und untergräbt ehrliche, unvoreingenommene Arzt-Patienten-Beziehungen nachhaltig. Echte Symptome erscheinen so nicht mehr glaubhaft und wirklich Kranke werden dann nicht mehr angemessen krank geschrieben.
Schuld sind immer die Ärzte
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Ebenso wie sich Kettenraucher mit unbehandelter Hypertonie, Adipositas, metabolischem Syndrom, Hepatopathie und Nephropathie ihren Myokardinfarkt oder Schlaganfall keinesfalls selbst erklären können, sondern lieber den behandelnden Arzt dafür verantwortlich machen wollen, gibt es in der Gesellschaft den Trend, grundsätzlich immer die „Anderen“ verantwortlich zu machen. Eigeninitiative, Eigenverantwortung und Selbsthaftung für das, was man tut oder unterlässt? – Fehlanzeige!
Selbst im kollegialen Miteinander: Die Verantwortung für Anamnese, Untersuchung, Differenzialdiagnostik und differenzierte Therapiemaßnahmen wird mehr und mehr abgegeben und von sich gewiesen. Sollen doch die anderen Blut abnehmen, Labor-„Latten“ veranlassen, zum dringend notwendigen CT, MRT, PET, SONO und Fachkollegen überweisen, teure Pharmako- und Physiotherapien veranlassen bzw. den wirklichen Spezialisten für seltene Krankheitsbilder („orphan diseases“) mühsam heraussuchen und finden?
Entsolidarisierung?
Es ist wie bei Samuel Shem in „House of God“ mit dem „Gomer“ („get off my emergency room“): Alle versuchen, Ihren Arbeitsbereich in Klinik und Praxis von störenden Patienten- und Fachkollegen-Interessenkonflikten frei zu halten und verlieren dabei den Blick für die Komplexität, Mehrdimensionalität und Funktionalität des Gesundheits- und Krankheitswesens bzw. die umfassenden medizinischen Bewältigungsstrategien der Conditio Humana.
Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund