Der Ort des größten Grauens im häuslichen Umfeld? Für viele meiner depressiven und Angst-Patienten ist die Sache klar. „Ich traue mich gar nicht, an den Briefkasten zu gehen“, sagen die Patienten und ihr Blick verrät mir, dass ihnen das furchtbar peinlich ist. „Verständlich“, entgegne ich, „könnte ja was drin sein.“ Erleichterung. Der Doktor versteht das Problem.
Am schlimmsten ist es, wenn man auf etwas wartet. Der Bescheid über die Verlängerung der Erwerbsunfähigkeits-Rente. Ein Brief vom Arbeitgeber. Ein Brief vom Staatsanwalt. Und als nächste Ausbaustufe sagte heute schaudernd einer der Patienten: Ein Brief von der Krankenkasse. Stimmt, klingt gruselig.
Raus aus der Wohnung, die Treppe runter, den kleinen Schlüssel in der Hand. Für viele ist das wie der Gang zum Schafott. Denn man kann bei dieser Nummer eigentlich kaum gewinnen. Schafft man es mit größter Überwindung, den Kasten aufzuschließen und es ist nichts drin, gibt es zwar kurzzeitig Erleichterung. Dann aber: Selbstvorwürfe, weil man sich „wegen so einer Kleinigkeit so anstellt“.
Phantasien, was drin hätte sein können. Überlegungen, ob morgen was drin ist. Und dann auch Ärger, weil nichts drin war. Egal um was es geht: „Frechheit, dass die so lange brauchen.“
So lange man den Brief nicht öffnet ...
Nächstes Szenario: Es ist etwas Unangenehmes in der Post. Sieht man schon am Absender. Worst case. Der Umschlag wird in die Wohnung mit genommen und dort auf den Stapel ebenfalls ungeöffneter Post gelegt. Das ist Phase 2 des Dramas. Die Post ist da, aber sie wird nicht geöffnet. Briefkasten reloaded.
Oder auch: Der Briefkasten enthält gute Nachrichten. Setzt voraus, dass genug Mut vorhanden war, die Post zu öffnen. Was dann? O-Ton: „Herr Doktor, schauen Sie sich das bitte mal an. Was steht denn da drin? Also ich habs schon gelesen und da steht, dass ich die Rente kriege. Kann das sein, Herr Doktor?“
Es kostet Nerven
Selbst wenn alles nach Plan gelaufen ist und der Patient das Ergebnis schwarz auf weiß vor sich liegen hat, wirkt das Gift des Briefkastens noch nach. Wochenlang hat sich die Angst aufgestaut, immer mehr haben die Finger mit dem Schlüssel in der Hand gezittert. Da kann doch jetzt nichts Erfreuliches dabei rauskommen. Der Briefkasten kostet meine Patienten mehr Nerven als jeder andere Gegenstand in und um das Haus.
Der Briefkasten hat immer geöffnet
Es ist ja irgendwie auch nachvollziehbar. Er ist die Schnittstelle zwischen der Wohnung, die in Zeiten von Depression und Angst als Rückzugsort und Festung dient und der kalten und oft feindseligen Welt „da draußen“. Bimmelt das Telefon, muss ich nicht hingehen. Gleiches gilt für die Türklingel. Nur der Briefkasten, der hat immer geöffnet und der Überbringer der vermeintlich schlechten Nachrichten, der Briefträger, kann einfach so die Horrorbotschaften da rein werfen und ab da gelten sie als zugestellt. Eine Lücke im System der vom Grundgesetz garantierten „Unberührbarkeit der Wohnung“, vergleichbar vielleicht mit Windows, das jede Woche einen Patch verschickt, um solche undichten Stellen auf dem PC zu verschließen und das Eindringen von Schadsoftware zu verhindern.
Die analoge Handlung, einen „Patch“ über den Briefschlitz zu kleben und das boshafte Ding stillzulegen, funktioniert leider auch nicht ewig.
Kreative Ansätze, mit dem Thema umzugehen
Eine meiner Patientinnen hat sich extra eine Reihe von Zeitschriften abonniert, die an verschiedenen Wochentagen zugestellt werden. Da überwiegt dann die Vorfreude auf die Lektüre die Angst vor dem Rest, der noch im Kasten sein könnte. Ein anderer bestellt sich kleine Dinge im Internet, die ebenfalls im Briefkasten landen und ihm das Öffnen desselben schmackhaft machen.
Ansonsten ist es wie immer, wenn die Angst regiert und der Mut sich nicht aus der Deckung traut: Komme ich alleine nicht weiter, ist es an der Zeit, sich Hilfe zu holen. Diese reicht von der Behandlung der zugrunde liegenden psychischen Störung bis zu konkreten Maßnahmen beispielsweise des „betreuten Wohnens“, bei der die Patienten in der schlimmsten Zeit den Gang zum Briefkasten und das Öffnen der Post mit einer Person des Vertrauens durchführen oder das Ganze völlig an diese delegieren können.
Es gibt also durchaus Hoffnung, dem Briefkasten die Stirn zu bieten und aus dem Teufelskreis aus Erwartung, Angst und Vermeidung auszusteigen.
Schrödingers Briefkasten?
Für dieses Phänomen habe ich mir eine private Erweiterung der ICD 10 gebastelt. Die neue Diagnose ist die syndromale Beschreibung einer ängstlichen Erwartungshaltung, gepaart mit einer phobischen, auf den Briefkasten bezogenen Angst und einer gleichzeitig bestehenden schwer rational zu beseitigenden Ambivalenz: Ich will unbedingt wissen, was im Kasten ist, aber ich will es auf keinen Fall wissen. Es besteht meist eine ausgeprägte Vermeidungshaltung. Das Krankheitsbild kann generalisieren und sich auch auf ungeöffnete Post enthaltende Bereiche der Wohnung erstrecken. Zu verschlüsseln unter „ICD F40.2 Spezifische Phobien“.
Nachdem „Briefkastensyndrom“ etwas seltsam klingt und Anglizismen eh viel cooler sind, heißt die neue Störung bei mir: „The Letterbox Syndrome“.
Um bei all dem locker und gleichzeitig eng am Thema zu bleiben: