Wenn der Sport seinen Tribut fordert und der Medizinstudent zum Arzt wird.
Montagabend, Zeit für Sport. Ich betrete die Halle und werde von meinem Trainer, der zu einem der Kids gewandt steht, schon fast enthusiastisch begrüßt: „Der ist Arzt!“, sagt er zu dem Jungen und dann in meine Richtung: „Kannst du mal nach ihm schauen?“
„Welch guter Start in den Abend“, denke ich mir und sehe den jungen Mann von etwa zehn Jahren auf der Bank sitzen und seinen Arm in Schonhaltung lagern. Mein Trainer verschwindet wieder auf die Matte, um das Kindertraining zu beenden und ich wende mich meinem frisch gewonnenen Patienten freundlich zu.
Es stellt sich heraus, dass er im Bodenkampf den Ellenbogen seines Trainingspartners auf den Unterarm geschlagen bekommen hat und jetzt die Hand nicht mehr bewegen möchte. Oder kann?
Sportverletzungen: Mein Spezialgebiet. Nicht.
„Gott sei Dank“, seufze ich innerlich, „kenne ich mich mit Sportverletzungen so gut aus. Nicht.“ Aber irgendetwas ist ja doch über die Jahre als Rettungssanitäter und Medizinstudent hängen geblieben und was kann schon falsch daran sein, einfach mal periphere Durchblutung, Motorik und Sensorik zu testen?
Da die Inspektion unauffällig und die Durchblutung vorhanden ist, wende ich mich der eingeschränkten Motorik und Sensibilität zu. Was steckt dahinter? Im Kopf gehe ich mögliche Differentialdiagnosen durch: Nervenschädigung, schmerzbedingte Bewegungseinschränkung mit Sensibilitätsstörungen durch Reizung des Periost – habe ich was vergessen?
Und: Wie genau war noch gleich die sensible und motorische Versorgung der Hand aufgebaut? In der Vorklinik wieder und wieder gelernt, zeichnet sich dieses Wissen aktuell leider nur noch schemenhaft auf dem Arm meines Gegenübers ab.
Schaden vom Patienten abwenden
Während meines Seminars der Allgemeinmedizin* war das Credo des Arztes: "Schaden vom Patienten abwenden!" Damit war gemeint, dass es nicht viel Hokuspokus bei jedem Schnupfen braucht, aber volle Wachsamkeit, wenn es gilt, den einen aus hunderten Patienten zu finden, bei dem es notwendig ist, lebensbedrohliche Situationen zu erkennen. Das klang damals nach keinem besonders heroischen Ziel. Irgendwie möchte man ja doch auch ein wenig mehr helfen.
Jetzt ist dieser Grundsatz plötzlich wieder präsent und demütig will ich ihn als Basis meines Handelns akzeptieren. Ein weiterer Schritt auf der Leiter der Erleuchtung. Was also mit dem eigenen, begrenzten Wissen und Können anfangen?
Wie damit umgehen, dass die eigene Einschätzung Gewicht und Konsequenz hat? Schaden vom Patienten abwenden. Und die Kirche im Dorf lassen.
Es zeigt sich in der weiteren Untersuchung, dass die Beweglichkeit vermutlich alleinig durch Schmerzen eingeschränkt, die Sensibilitätsstörungen wahrscheinlich allein durch den Schlag auf das Periost verursacht sind. Erinnert ihr euch an das letzte Mal, als ihr euch mit dem Arm oder Schienbein gestoßen habt? Das kann wirklich fies sein.
(K)ein Fall für die Notaufnahme?
Am Ende entscheide ich mich in Absprache mit dem Trainer dazu, die Verletzung weiter zu kühlen um die Schmerzen zu lindern. Dem Jungen habe ich mittlerweile erklärt, dass die Einschränkungen am besten durch die Schmerzen zu erklären sind, er sich aber unbedingt einem Arzt vorstellen soll, wenn seine Beschwerden im Laufe des Abends nicht besser werden.
„Könnte das noch ein unnötiger Fall in der Notaufnahme werden, der zur Regelzeit hätte kommen können?“, frage ich mich, verwerfe den Gedanken nach Reflexion meiner Diagnose aber wieder. Wenn ich Recht habe, wird er die Notaufnahme gar nicht erst brauchen.
Es folgt der Eintrag ins Verbandbuch, um den Unfall ordentlich zu dokumentieren und die Absicherung, dass mein Patient nicht einarmig mit dem Fahrrad nach Hause fahren muss und dass seine Eltern informiert werden.
Einige Fragen bleiben offen
Dieser kleine Zwischenfall hat doch einige Gedanken ins Rollen gebracht. Nicht nur erlernte Anamnese- und Untersuchungstechniken, Red Flags und der Spezialfall eines minderjährigen Patienten müssen berücksichtigt werden, gleichzeitig kreisen die Gedanken noch um rechtliche Rahmenbedingungen und die Frage, wie weit ich mich absichern will und muss. Wo liegt die Grenze zwischen der Ersten Hilfe im Verein und der erwarteten und gebotenen Professionalität?
Die Suche nach dem anscheinend schmalen Grat der richtigen Entscheidung ist trotz des einfachen Fallbeispiels doch komplex und individuell.
Im folgenden Training habe ich glücklicherweise keine Rückmeldungen mehr zu weiteren Folgen des Zwischenfalls bekommen. Das hat mich gefreut, denn es zeigt, dass meine Überlegungen korrekt waren. Schaden konnte zwar nur insofern abgewendet werden, als das meine Empfehlung ihn nicht stundenlang in eine volle Notaufnahme verbracht hat, aber auch das lasse ich mir als ordentliche Arbeit durchgehen.
Im selben Training hat sich dann übrigens noch einer der Großen überschätzt und das Knie beziehungsweise den Unterschenkel mächtig verdreht. Erinnert ihr euch noch an Olympia im Sommer ...? Ein neuer Fall, eine neue Entscheidung. Diesmal pro Notaufnahme.
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*Für alle Nicht-Frankfurter Studenten: Wir genießen den Luxus gleich mehrerer Allgemeinmedizinveranstaltungen: Ein Seminar, ein Blockpraktikum und die Pflichtfamulatur.
Schade, dass auf der anderen Seite Dinge wie ein ALS (Advanced Life Support) Kurs auf einen BLS Kurs (Basic Life Support) verkürzt wurden und die Anästhesiologie je nach Krankenhaus zwei beziehungsweise vier Tage Zeit hat, unsere Kompetenzen für Notfälle aufzubauen und zu trainieren. Dazu an anderer Stelle in naher Zukunft aber mehr.
Der Fairness halber möge gesagt sein, dass die praktische Ausbildung der Allgemeinmedizin, soweit von mir beurteilbar, wirklich sehr gut und tatsächlich praktisch organisiert wird. Damit möchte ich hier ein Dankeschön an alle Allgemeinmediziner aussprechen, die mir und anderen sehr zufriedenen Kommilitonen eine exzellente Ausbildung bieten!