„So etwas darf einfach nicht passieren! Stellt euch vor, das wäre euer Sohn. Oder Freund. Jetzt hat er sein Leben lang darunter zu leiden! ... Ich werde noch herausfinden, wer dafür verantwortlich ist.“ So ähnlich muss die Standpauke des Chefarztes in der Morgenbesprechung auf der Ortho heute früh geklungen haben.
Ich sitze in der Krankenhauskantine, in der man für nicht einmal zwei Euro ein sehr akzeptables Mittagessen inklusive Salat und Nachtisch erhält. Selbst hier verstehen die Franzosen etwas von Essen. Gegenüber von mir Franzi, Erasmus-Studentin aus Ulm, die seit einer Woche auf der Orthopädie ist. Sie lernt nun die gleichen Ärzte und Studenten kennen, mit denen auch ich schon vor einem Monat auf der Station und im OP war. Nur die Assistenzärzte sind neu. Und einem der alten Truppe ist ein kaum verzeihlicher Fehler unterlaufen.
Franzi beschreibt die Situation, die heute früh Grund für eine ungewohnt ausführliche und hitzige Morgenbesprechung war: Am Wochenende hatte sich ein 16jähriger in der Notaufnahme vorgestellt, mit einer Rugbyverletzung, die er sich vor sieben Wochen zugezogen hat. Einem ausgerenkten Finger. Eigentlich einer Kleinigkeit für die Orthopäden. Doch in diesem Fall war der junge Mann nach Hause geschickt worden, obwohl – wie dem Röntgenbild von damals deutlich zu entnehmen ist – der Finger noch nicht ordentlich reponiert war. Der Patient hat bis jetzt geduldig die Heilung abgewartet, wundert sich aber nun doch, dass er immer noch Schmerzen hat und den Finger nicht bewegen kann. Leider war er in diesem Fall etwas zu geduldig und folgsam. Vermutlich wird der Finger versteift werden müssen. Zu viel Zeit ist verstrichen.
Woran lag's?
So etwas darf nicht passieren. Sollte nicht passieren. Passiert aber eben leider doch. Ob in der Nacht vor sieben Wochen ein Hinweis, sich am nächsten Tag erneut beim Arzt vorzustellen, untergegangen ist? Oder der junge Mediziner / die junge Medizinierin (übermüdet wie er/sie vermutlich war) wirklich das Röntgenbild falsch interpretiert hat? Eigentlich sind doch auch noch Radiologen im Hintergrund, oder nicht?! In Gedanken gehe ich die Assistenten durch, die ich kenne. Einige waren im ersten Jahr der Ausbildung. 80 bis an die 100 Stunden pro Woche haben sie sechs Monate lang in der Orthopädie geschuftet. Zwei Nachtdienste, je im Anschluss an einen regulären 10-Stunden-Arbeitstag. Zwar mit einem Chef im Hintergrund, den sie aber in der Regel nur für Not-OPs gerufen haben. So ist es üblich.
Vor diesen Rahmenbedingungen ist es an sich unrealistisch, von ihnen zu erwarten, zu jeder Zeit volle Leistung zu erbringen. Konzentriert die Nacht durcharbeiten nach einem Tag im OP? So ist das eben, Ärzte schaffen das schon. Manchmal habe ich den Eindruck, dass einige Ärzte – obwohl sie natürlich auch oft genug über die Arbeitszeiten klagen – auch ziemlich stolz sind, mit diesen Herausforderungen umzugehen. Es scheint Teil des Berufsethos zu sein. Für Busfahrer ist eine ‚Tageslenkzeit‘ von neun Stunden als Obergrenze festgelegt. Zweimal pro Woche darf diese auf zehn Stunden ausgedehnt werden. So ist es von der EU geregelt, aus Sicherheitsgründen und Verantwortungsbewusstsein. Ärzte könnten nur müde grinsen, wenn sie das hören. Statt einer ‚Tagespraktizierzeit‘ mit Obergrenze sind in ihrem Wortschatz die 24h-Schicht und die 80-Stunden-Woche.
Fehler sind vorprogrammiert
Das geht zu Lasten der Patienten, wie in diesem tragischen Fall. Aber auch zu Lasten der Ärzte. Das erste Mal Verantwortung tragen, allein entscheiden. Die meisten Studenten, die ich kenne, haben davor großen Respekt. Nicht verwunderlich, denn was ihnen abverlangt wird, ist kaum zu schaffen. Fehler sind vorprogrammiert, auch wenn das keiner zugeben will. Insofern bin ich mir nicht sicher, ob die Standpauke des Chefarztes an der richtigen Stelle ansetzt. Sicherlich ist es wichtig, immer wieder zu verdeutlichen, welche Verantwortung die jungen Ärzte tragen. Aber das ist eben auch nur die eine Seite der Medaille.
Die Arbeitsbedingungen sind eine meiner größten Sorgen, wenn ich an meinen zukünftigen Berufsalltag denke. Und ich möchte gar nicht wissen, wie viele junge Mediziner ihren Beruf aus diesen Gründen aufgeben. Statistische Angaben ranken zwischen 15 und 30 Prozent. Und wie hoch die Rate der Unzufriedenen unter denen ist, die ihm trotzig trotzdem treu bleiben. Denn wie war es noch mal: Eine der größten Ursachen für Frust am Arbeitsplatz sind Anforderungen, die der Einzelne mit den ihm zur Verfügung gestellten Möglichkeiten kaum erfüllen kann. Zum Blog geht es hier.