In diesem Mai ist auf der Seite der Onlinezeitung Huffington Post ein Artikel erschienen, der kolportiert, Ärzte würden ihre Patienten unnötigerweise krankschreiben, um sie aus wirtschaftlichen Gründen warmzuhalten. Völlig absurd: Wir schreiben keinen krank, der gesund ist.
Im Mai dieses Jahres ist auf der Huffington Post ein Artikel erschienen: „Das Geschäft mit dem Krankenschein: Warum viele Ärzte aus wirtschaftlicher Not gesunde Patienten krankschreiben“
Zitiert wird eine Untersuchung aus Norwegen, die nahelegt, dass der Konkurrenzdruck unter niedergelassenen Ärzten diese dazu verleitet, Patienten auf deren Wunsch eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) auszustellen, obwohl sie arbeitsfähig wären. Dadurch würden sich diese Ärzte mehr Zulauf erhoffen.
Der Artikel auf den Huffington Post führt weiter aus:
Was ist ein Krankenschein?
Dass der Verfasser des Artikels, Tom Sundermann, nicht viel von der Materie versteht, zeigt sich schon an der Verwendung des Begriffes „Krankenschein“ in diesem Zusammenhang. Ein Krankenschein wird nämlich immer angelegt, wenn ein Patient zum Arzt kommt. Dort werden dann alle Verordnungen, Rezepte, abgerechnete Leistungen und AUs dokumentiert. Früher wurde das alles handschriftlich vorgenommen, heute ist der „Krankenschein“ eine Maske in der Praxis-EDV. Was der Verfasser des Artikels meint, ist die schon erwähnte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.
Aber ich will gar nicht lange bei den journalistischen Schwächen stehen bleiben, sondern auf den Inhalt eingehen.
Die Untersuchung wurde durchgeführt von dem Wirtschaftsinstitut IZA, einer nach eigenen Angaben unabhängigen Einrichtung, die unterstützt wird von der Deutschen Post, diversen Regierungen und „internationalen Unternehmen“, die nicht im näheren genannt werden. Beide Autoren der Untersuchung sind Ökonomen.
Danach würden etwa 7 % aller Krankschreibungen nicht aus medizinischen Gründen erfolgen, sondern weil die Ärzte damit Patienten an sich binden wollten. Die Huffington Post rechnet vor, dass dadurch ein Schaden von 7,2 Milliarden Euro im Jahr entstehen würde, denn Krankheitstage insgesamt verursachten einen Schaden von 103 Milliarden Euro für unsere Volkswirtschaft.
Drei Aspekte bei dieser Geschichte sind mir besonders wichtig:
Die AU hängt von vielen Fakoren ab
1. Wer etwas mehr Einblick in den Alltag einer Arztpraxis hat, wird wohl nur mit dem Kopf schütteln können. Dass ein Patient in die Sprechstunde kommt, angibt, gesund zu sein und eine Krankschreibung fordert, ist völliger Unsinn. Dass „gesunde Patienten“ vom Arzt „krankgeschrieben“ werden, wie die Huffington Post es formuliert, ist – zumindest in allen Praxen, in die ich Einblick habe – undenkbar. Mit der ärztlichen Realität hat das nichts zu tun.
Unterschiede gibt es dagegen sicher bei dem Ausmaß an Krankheit, das ein Patient aufweisen muss, um die AU zu erhalten. Denn die Schwelle zur Krankschreibung hängt auch von Faktoren ab, die im Umfeld des Patienten zu finden sind. Wie ist der Arbeitsplatz beschaffen? Ist im häuslichen Umfeld Erholung möglich oder gibt es da vielleicht noch mehr Stress als auf der Arbeit? Und dann gilt es, vorausschauend zu entscheiden: Kann durch eine oder mehrere kürzere AUs vielleicht eine längerdauernde verhindert werden? Oder braucht es die Auszeit, damit eine drohende Frühberentung abgewendet werden kann?
Man sieht: In Wirklichkeit sind es völlig andere Fragen, die sich der Arzt zusammen mit dem Patient bei der Entscheidung „AU oder nicht“ stellt.
Wirtschaft über Gesundheit
2. Im Prinzip geht es hier wieder um eines meiner „Lieblingsthemen“, nämlich die unselige Dominanz wirtschaftlicher Aspekte gegenüber medizinischen und menschlichen Faktoren. Alleine die Formulierung, Krankschreibungen würden einen volkswirtschaftlichen Schaden verursachen, finde ich schon sehr bedenklich. Wer so argumentiert, sollte den Schaden gegenüber stellen, der entstehen würde, wenn die Krankschreibungen nicht erfolgen würden.
Damit meine ich natürlich auch den finanziellen Schaden, der dann noch viel erheblicher wird, wenn diese Arbeitnehmer einige Wochen oder Monate später für lange oder für ganz ausfallen.
Aber wichtiger noch ist die Frage nach der gesundheitlichen und menschlichen Bedeutung. Krankheit hat nämlich in erster Linie keine finanzielle Dimension, sondern eine zutiefst persönliche. Da geht es um Schmerzen, Angst, körperlich und seelisch bedrohliche Entwicklungen. Hier einseitig von wirtschaftlichem Schaden zu reden, wenn man diese Menschen nicht krankschreibt, ist zynisch und unmenschlich.
Wie bekommt man „das Ärztepack“ in den Griff?
3. Eine Passage ist mir noch besonders aufgefallen: „The authors propose that if all the GPs in Norway received fixed salary contracts instead of letting them run their own businesses, the level of illness-induced absence from work would decrease by roughly 3-4 %“.
Das ist nun eine politische Dimension, die nicht nur in Norwegen, sondern auch bei uns in Deutschland eine große Rolle spielt. Wie bekommt man „das Ärztepack“ (Zitat Horst Seehofer) in den Griff? Man verstaatlicht einfach die niedergelassenen Ärzte, schafft den freien Beruf ab und zahlt den Ärzten ein Gehalt.
Klingt gar nicht so schlecht, werden einige sagen (ja, vielleicht auch einige Ärzte). Was aber dahinter steckt, ist eine Einflussnahme nach der alten Regel „Wer zahlt, schafft an“. Bei so einem Szenario wären spätestens nach einem Vierteljahr die ersten Quoten auf dem Schreibtisch, die regulieren würden, wie viele Krankschreibungen pro Quartal erlaubt sind. Ich übertreibe da, meinen Sie? – Kann sein, vielleicht dauert es auch zwei Quartale. Einen maximalen Einfluss auf die Ärzte zu bekommen, um endlich auch diese zu vorwiegend volkswirtschaftlich orientiertem Handeln veranlassen zu können, ist sicher der feuchte Traum so manches Politikers.
Ich fasse also noch mal zusammen:
Ich hasse es, wenn jemand versucht, zwischen meine Patienten und mich einen Keil zu treiben – seien es nun oberflächlich arbeitende Journalisten oder Volksökonomen mit Scheuklappen.
Peter Teuschel