Krankheiten vorbeugen mit Hilfe von Suchmaschinen? Eine Auswertung gesuchter Begriffe soll Suizide verhindern, indem Usern helfende Informationen ausgespielt werden. Des Weiteren könnten Suchanfragen bei der Früherkennung des Pankreaskarzinoms hilfreich sein.
Aktuellen Umfragen des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller (BAH) zufolge hat schon jeder zweite Deutsche im Internet nach eigenen Krankheiten recherchiert. User „googelten“ nicht nur Wehwehchen, sondern auch schwere Leiden. Sie interessieren sich primär für Informationen zum Krankheitsbild (91 Prozent). Behandlungsmöglichkeiten spielen bei schweren Erkrankungen (87 Prozent) eine etwas größere Rolle als bei harmloseren Leiden (81 Prozent). Für Wissenschaftler verbergen sich in den Daten wahre Goldschätze, wie aktuelle Veröffentlichungen zeigen.
Durch ihre Suchabfragen verraten User viel über ihren seelischen Zustand. Dr. Florian Arendt und Dr. Sebastian Scherr vom Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU forschen in diesem Bereich. Ihnen ist klar, dass das Internet eine wichtige Rolle bei der Suizidpräsentation spielt. In der Praxis gibt es noch Schwierigkeiten. Hilfsangebote nur bei 25 Prozent aller Anfragen, die auf einen potenziellen Suizid hinweisen, ausgegeben, schreiben die Forscher. „Damit vergeben Suchmaschinen die Chance, einer großen Anzahl gefährdeter Personen zu helfen“, sagt Scherr. Am Beispiel des Suchbegriffs „Vergiftung“ haben beide Forscher den zeitlichen Verlauf von Google-Suchanfragen analysiert. Häufung des Suchbegriffs "poisoning" um den Jahreswechsel. Quelle: Health Communication, Screenshot: DocCheck Schwankungen des Suchbegriffs "poisoning" im Wochentakt. Quelle: Health Communication, Screenshot: DocCheck Extrema traten wenig überraschend um Weihnachten und um Neujahr auf. Im Wochenverlauf gemessen, gaben Internet-Nutzer vor allem sonntags den Schlüsselbegriff ein. „Zumindest an solchen Tagen wäre es daher in einem ersten Schritt notwendig, Hilfsangebote vermehrt anzuzeigen“, sagt Scherr. Die Forscher schlagen deshalb vor, Algorithmen großer Suchmaschinen so anzupassen, dass Risikofaktoren stärker berücksichtigt werden.
Ein anderes Projekt befasst sich mit der Frage, ob sich aus Suchabfragen auch Krebsrisiken ableiten lassen, wie DocCheck bereits berichtete. John Paparrizos aus New York befasste sich mit Pankreaskarzinomen. Trotz etlicher Fortschritte in der Onkologie liegt die Fünf-Jahres-Überlebensrate bei fünf Prozent. Viele Tumoren sind zum Zeitpunkt der Diagnose nicht mehr lokal begrenzt. Symptome treten erst spät auf. Zusammen mit der Forschungsabteilung von Microsoft analysierte Paparrizos Big Data von Bing. Er fand User, die aufgrund ihrer eingegebenen Begriffe („Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs“, „Behandlung Bauchspeisenkrebs“, u.a.) mit großer Wahrscheinlichkeit erkrankt waren. Über die Historie wertete der Forscher frühere Webrecherchen aus. Und siehe da: Viele Patienten hatten Monate zuvor Symptome in Bing eingegeben, die auf ein Pankreaskarzinom hindeuten. Auf dieser Basis lassen sich medizinische Frühwarnsysteme aufbauen. Wer bestimmte Termini eingibt, erhält den Rat, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. John Paparrizos erwartet, fünf bis 15 Prozent aller Pankreas-Ca früher zu entdecken. Als Rate falsch-positiver Befunde gibt er 0,00001 bis 0,0001 Prozent an. Bis zur Umsetzung kann es noch dauern.
Deutlich weiter ist Google Flu Trends (GFT). Im Jahr 2008 begann der Konzern, in Suchmaschinen systematisch Begriffe zu identifizieren, die mit einer echten Grippe in Verbindung stehen. Screenshot: DocCheck Die Prognosen waren meist mit retrospektiven Daten der Centers für Disease Control and Prevention (CDC) vergleichbar. Korrelationen gab es mit der Zahl labordiagnostisch bestätigter Virusinfektionen und mit der Zahl an Notfallbehandlungen. Große Fehler treten beispielsweise in Lateinamerika auf. Kein Einzelfell: GFT hat die H1N1-Pandemie des Jahres 2009 schlichtweg übersehen. Dafür wurden die Grippewellen 2011/2012 und 2012/2013 um mehr als 50 Prozent zu hoch eingeschätzt, kritisieren Forscher. Mittlerweile veröffentlicht Google keine neuen Daten mehr über seine Website. Beim Projekt „flu prediction“ gehen Forscher noch einen Schritt weiter. Sie werten neben Internetquellen Social Media wie Twitter oder Facebook ebenfalls aus. Als weitere Quelle kommen CDC-Daten mit hinzu. IBM ist mit seinem Superrechner „Watson“ mit an Bord.
Bei aller Technik bleibt noch eine Störgröße: der Mensch. Was bringen aktuelle Informationen zu Grippewellen, wenn sich zu wenige Patienten impfen lassen? Bei der Risikogruppe über 60 Jahren entschieden sich zuletzt nur 36,7 Prozent für den Schutz per Spritze. Bundesweite Impfquote für eine Influenza-Impfung bei Personen im Alter von mindestens 60 Jahren. Quelle: RKI Bei Krebserkrankungen kommt ein weiteres Problem hinzu. Wie viele Patienten auf Warnhinweise, die eine Suchmaschine ausgibt, überhaupt reagieren, ist unbekannt.