„Und schau mal das hier, ganz voll, gestern schon! In Deutschland würde das nicht passiert, muss sauber machen jeden Tag.“ Madame B. ist aufgebracht. Die Mutter der sieben Wochen alten Zwillinge Leandro und Leandra spricht besser deutsch als französisch, obwohl auch das nicht ihre Muttersprache ist. Nun ist sie dankbar, ihrem Ärger Luft machen zu können.
Äußerlich sieht sie aus wie viele der Eltern in unserem Krankenhaus: Die Kleidung vermutlich von einem Wühltisch, bunt zusammengewürfelt, Kopftuch, dazu der französischen Sprache nur sehr gebrochen mächtig. Es gelingt Madame B. nicht, ihren Sorgen um ihre Kinder Ausdruck zu verleihen oder die Fragen zu stellen, die ihr auf dem Herzen brennen. Oder aber sie versteht nur einen Teil der Antworten, die sie bekommt. Das ist frustrierend. Und obendrein ist sie der festen Überzeugung, dass ihre Kinder in einem deutschen Krankenhaus besser aufgehoben wären. Dort hat sie lange gelebt, zwei weitere Kinder großgezogen. Was sie nun nach Paris geführt hat, verstehe ich nicht ganz, aber es wird klar, dass sie lieber nicht hier wäre.
Kompetente Studenten?
Ich bemühe mich, Madame B. zu beruhigen. Sie versteht nicht, warum eine deutsche Studentin ein Interesse daran haben sollte, von den Franzosen Medizin zu lernen. Wo doch in Deutschland alles besser sei – nicht Studenten oder Krankenschwestern ihre Kinder versorgen würden sondern richtige Ärzte. Komisch eigentlich, dass jemandem, nur weil er einen Abschluss hat, automatisch 100 % Kompetenz zugeschrieben wird. Und jemandem, der seinen Abschluss anstrebt, nahezu gar keine.
Ich für meinen Teil kann mir gut vorstellen, dass ein französischer Student am Ende seines Studiums mit einem praktischen medizinischen Problem kompetenter umgehen kann als so manch junger Assistenzarzt in Deutschland.* Und obwohl Madame B. recht hat und in Deutschland um diese Uhrzeit vermutlich schon ein Arzt bei ihren Kindern gewesen wäre, sind in Frankreich wiederum die Krankenschwestern umfangreicher ausgebildet. Und die haben ihre Kinder heute früh schon mehrfach zu Gesicht bekommen und hätten bei Bedarf jederzeit ärztliche Unterstützung holen können. Und ohnehin, die Zwillinge leiden zwar an einer hartnäckige Halsentzündung und haben daher leichte Atemschwierigkeiten, werden aber per Monitor pausenlos überwacht. Sie befinden sich in guter und kompetenter Betreuung. Ich tue mein Bestes, Madame B. das zu erklären und sie zu beruhigen. Und verweise auf die anstehende Visite.
Kein Gespräch auf Augenhöhe
Als der leitende Oberarzt samt Gefolgschaft in das Zimmer einzieht, ist die Situation allerdings ganz anders, als ich es erwartet hätte. Madame B. scheint sich hinter kleinen Aufgaben zu verstecken, sie sucht nach einem Schnuller, kramt in ihrer Tasche, schaut aufs Handy, anstatt die Gelegenheit zu nutzen und dem Arzt Fragen zu stellen. Ist es das Sprachproblem, vermischt mit Respekt vor einer Autorität? Einer Sprache nicht mächtig sein, Verständigungsschwierigkeiten, ein schwacher sozioökonomischer Hintergrund – inwiefern erfahren Patienten mit einem solchen Profil in Frankreich (oder auch in Deutschland) eine andere Behandlung, als Patienten, die selbstbewusst Fragen stellen und Antworten verlangen? Rein objektiv werden Madame B.'s Kinder genauso versorgt wie ein Kind mit diesen Symptomen in Frankreich nun einmal versorgt wird, streng nach Protokoll. Dazu kommen aber noch weiche Faktoren: genaue Erklärungen, beruhigende und verständnisvolle Worte. Ein Gespräch auf Augenhöhe. Und all das bleibt dieser Mutter vorenthalten.
*Damit sei mir nicht in den Munde gelegt, ich hielte die französische medizinische Ausbildung im Allgemeinen der deutschen für überlegen. Aber praktischer ausgerichtet ist sie, ein französischer Student wird im Durchschnitt am Ende seines Studiums mehr Patienten gesehen haben als ein deutscher. Zum Blog geht es hier.