Ich habe eine Patientin, die als hochqualifizierte Hygienefachkraft in einem Klinikum arbeitet. Sie wird von folgendem Phänomen gequält: Sie ist dafür verantwortlich, die Sterblichkeit bzw. Komplikationsrate im Zaum zu halten. So, dass es nicht zum Himmel stinkt oder zu sehr auffällt. Und das will sie gut machen. Und könnte es gut machen. Wenn sie es gut machen könnte.
Wie vermutlich in vielen Krankenhäusern gilt Hygiene als ein notwendiges Übel. Und der ein oder andere Operateur ist vermutlich der Überzeugung, dass wir Ärzte aus Prinzip steril sind. Anders ausgedrückt: Die lästigen Hygieneregeln betrachtet man eher so, dass sie doch nur bei einer Überprüfung einzuhalten sind, nicht aber im Alltag und schon gar nicht dann, wenn es heiß her geht. Oder das Geld knapp ist. Oder das Personal fehlt. Oder, oder, oder. Ausreden für fehlende Hygiene gibt es immer. Die einmal jährliche Hygieneschulung mit Unterschriftenliste sollte doch ausreichen, zumal sie schon genug wertvolle Zeit raubt.
Wirtschaftlichkeit geht vor
Wenn bei uns vor Ort ein Klinikum weitermachen kann, obwohl noch menschliche Überreste der Vor-Op am Besteck kleben, sagt das schon eine Menge aus. In diesem Klinikum wird man wahrscheinlich auch nur dann arbeiten, wenn der persönliche Lebenslauf eh schon auf Ramsch-Aktien-Niveau angekommen ist. In solchen Kliniken ist keine Zeit für Feinheiten. Zumindest dann nicht, wenn es Geld kostet und (vordergründig) nicht neue Kohle bringt. Wenn im gleichen Konzern dann RTL „undercover“ ähnliche Zustände entdeckt, ist die Konsequenz ja klar: Man erwirkt lieber eine einstweilige Verfügung gegen die Ausstrahlung. Denn natürlich kann in einem Aktienkonzern sowas echt übel an die Rendite gehen und eine Schädigung der Interessen der Aktionäre auslösen.
Aber das nur am Rande.
„Keime fühlen sich bei uns grundsätzlich unwohl“
Das man schon beim simplen Händewaschen eine ganze Menge falsch machen kann, sollte bekannt sein. Wie es richtig geht, ist leider weniger verbreitetes Wissen. Und gerade das Umsetzen des Wissens – so es denn vorhanden ist – scheint schwierig: „Multiresistente Keime kommen immer aus anderen Kliniken. Die fühlen sich bei uns schon aufgrund des Betriebsklimas nicht zu Haus“, heißt es dann von Operateuren.
Fragt sich nur, warum selbst bei uns in der Klinik (Psychosomatik- und Orthopädie-Reha) immer mehr Zimmer der Orthopädie zu Schutzräumen gegen diese Fieslinge umgebaut werden müssen.
Ich schweife ab. Denn natürlich juckt mich der Hygiene-Verstoß eben doch nicht so, wie er mich jucken sollte. Derzeit liege weder ich noch einer meiner Angehörigen in einer Klinik und so ist das Problem nicht in Sichtweite.
Außerdem habe ich ja eine Hygienefachkraft vor mir, wie sie im Lehrbuch steht. Die alles richtig macht, sympathisch ist und kommunikativ gut geschult. In ihrem Fachgebiet ist sie auf der Höhe der Zeit und hat zudem noch ein Gespür für wirtschaftliche Zusammenhängen. Sie erwartet keine Wunder, möchte vielmehr Schritt für Schritt Optimierungen zur Veränderung einführen.
Der multiresistente Kaktusmenschen
Mir geht es um die Auswirkungen, die das Aushalten eines solchen Un-Zustands im Medizinsystem auf die Psychohygiene der Mitarbeiter hat. Wobei die lästigen Viren und Bakterien auch metaphorisch für unhaltbare Zustände im Gesundheitsbereich (bzw. spezieller Kliniken) stehen. Es gibt genug Energie-Vampire und Quälgeister, die uns den letzten Nerv kosten und sich nicht anders verhalten als die Krankenhauskeime: Man wird sie einfach nicht los und sie kosten eine Menge Gesundheit.
Diese multiresistenten Kaktusmenschen sind gegen Beratung und Vernunft immun. Im Gegenteil: Je näher man selber an der Wahrheit ist, desto vehementer ist mit Abwehrreaktionen bis hin zur massiven Abwertung auf einer persönlichen Ebene zu rechnen. Psychiater sehen hier häufig eine narzistische Kränkung. Vermutlich ist das Phänomen aber noch weiter verbreitet und bezieht sich auf eine Resistenz gegenüber der Wahrnehmungen anderer und dem Erkennen von Zusammenhängen, die manchen Menschen schlicht nicht zugänglich sind.
Und hier stoßen eben diese Menschen mit ihrer besonderen „Krankheit“ namens Empathie bzw. Feinfühligkeit übel auf. Ich erkläre meinen Patienten aus dem ADHS-Schwerpunkt dann gerne, dass Kinder und Erwachsene aus dem ADHS-Spektrum häufig als Indiktoren für die struktruelle und persönliche „Virenlast“ in ihrer Umgebung angesehen werden können. Oder anders ausgedrück: Sie nehmen Spannungen und Störungen besonders sensitiv wahr. Leider können sie diese Form der WAHR-Nehmung aber nicht so kommunizieren, dass es für neurotypische Menschen verständlich wäre.
Gebeutelt von hierarchischen Verhältnissen
Natürlich arbeitet meine Patientin in einer besseren Klinik als die oben erwähnte. Aber sie leidet unter der Fähigkeit, dass Sie ein funktional denkendes Gehirn hat. Sie erkennt Zusammenhänge und kann auch die Auswirkungen des Nicht-Handelns sehr deutlich erkennen.
Bei der Patientin wurde im stationären Aufenthalt eine ADHS-Konstitution diagnostiziert. Aber in ihrem speziellen Fall ist ADHS eher eine Gabe. Sie nimmt mehr und anders wahr. Die syndromtypischen „Störungen“ wie Unruhe, Konzentrationsprobleme oder Ablenkbarkeit oder auch Störungen der Impulskontrolle hat sie gut im Griff. Denn sie hat ihr Leben lang gelernt, damit haushalten zu müssen. So gut wie alle meiner ADHS-Patienten haben ein funktionalles Gehirn, das „anders“ tickt und anders wahrnimmt. Ganzheitlich? Es achtet eher auf Abweichungen als auf einen Zustand zu einem festen Zeitpunkt, eher auf Dynamiken und Veränderungen und eben auf mögliche Störeinflüsse.
Sie leidet also nicht unter ADHS. Sie leidet darunter, dass sie Störungen – in ihrem Fall zum Beispiel nicht eingehaltene Hygienevorschriften – in ihrem Umfeld wahrnimmt und nicht so verändern kann, wie es angemessen wäre.
Aus meiner Sicht ist die Patientin dabei eigentlich die ideale Besetzung für ihre Position. Wenn das nur mal die Anderen auch so sehen würden ...
Sie ist aber umgeben von – hierarchisch höherpositionierten – Personen, die eben anders (prädiktiv) denken und überhaupt nicht erfassen, was sie will und wovon sie spricht. Für die Anderen gilt das Hier und Jetzt, dann wenn ein Keim auftritt. Und dafür gibt es Antibiotika.
Zustand der erlernten Hilfllosigkeit
Meine Patientin ist nun in etlichen Schulungen und Weiterbildungen gewesen. Und hat dort u.a. auch Kommunikationstrainings absolviert. Und sie weiß, dass Kommunikation an der richtigen Stelle der richtige Weg ist. Also spricht sie es an. Spricht es noch mal an. Und wird abgebügelt.
Was lässt sich schon ein Chefarzt von seiner Hygiene-Tante sagen, die doch sowieso darauf aus ist, einen vernünftigen Op-Schnitt von überflüssigen Arthroskopien, Hüft-Teps oder sonstigen Leistungen von Doktor-Allmächtig in Frage zu stellen. Wie sollte da die vereinbarten Zielerreichungsprämie denn erreicht werden, wenn man sich an den Schnickschnack bei der Reinigung bzw. fachgerechten Vorbereitung eines OPs halten würde. „Zack-Zack“ ist da angesagt. Das versteht auch die Geschäftsführung wesentlich besser als die Hygienepläne. Risikomanagement wird von BWL-ern gemacht, nicht von Hygienikern.
Wo ist der Ausweg?
Sie macht also alles (?) richtig, und versucht es wieder und wieder. Und gerät so in einen Zustand der erlernten Hilflosigkeit. Alle Ansätze und Versuche einer Veränderung erscheinen immer wieder frustran zu verlaufen.
Ehrlich gesagt denke ich dabei : Sie ist die „Gute“ und ich wüsste nicht, ob man ihr nun eine weitere „Anpassung“ an kranke Strukturen empfehlen sollte. Bis zu einem gewissen Umfang bedeutet jede angestellte Tätigkeit eine Anpassung und auch Unterwerfung. Aber ab einem bestimmten Punkt muss die Verantwortung für die Hygiene und eben die eigene Psychohygiene auch vor sich selber ernst genommen werden.
2 Tage später kam die Patientin zu mir und teilte mir mit, dass Sie mittelfristig die Stelle kündigen werde und ein Studium beginnen wolle. Sie wisse, dass dort möglicherweise die gleichen Probleme auf einer anderen Stufe und in Variationen auftreten könnten. Sie wisse, dass sie damit auch keine Probleme löse und sich damit die Hygienesituation in ihrer Klinik möglicherweise weiter verschlechtere.
Aber um sich selber in den Spiegel schauen zu können, sei dies der richtige Schritt.