Die Fontanelle tasten ist ein Trick, der bei meinem kleinen Patienten immer funktioniert. Das vier Wochen alte Baby lässt sich anfangs ohne zu murksen von mir begutachten. Als dann doch ein bisschen geknartscht wird, brauche ich nur meine Hand auf den Kopf des Kleinen zu legen, und innerhalb einiger Herzschläge entspannt sich sein ganzer Körper.
Babys können in diesem Alter noch nicht gezielt andere anlachen. Aber ihre Muskulatur scheint schon eng verknüpft zu sein mit emotionalen Arealen des Gehirns, denn auf dem Gesicht des Säuglings, das gerade mal so groß ist wie meine Handfläche, breitet sich ein breites, zufriedenes Grinsen aus. Die kleine Zunge ist kurz zu sehen, glückliche Gluckslaute zu hören. Ein Genießer, der den Wert einer Massage schon früh erkannt hat.
Das Frühchen bleibt hier
Seit drei Tagen betreue ich den vier Wochen alten Thomas, obwohl er keiner medizinischen Betreuung bedarf. Aber da er noch auf der Station ist, ist es aus rechtlichen Gründen notwendig, ihn täglich zu untersuchen. Eigentlich hätte er schon seit ein paar Tagen zu Hause sein können, die anfänglichen Anpassungsschwierigkeiten – Thomas ist ein Frühchen und musste das Atmen erst lernen – sind erfolgreich überwunden. Doch nach Hause darf er noch nicht. Das Jugendamt hat nach einem Hausbesuch kurz nach seiner Geburt entschieden, dass die Wohnung seiner Eltern kein geeignetes Umfeld für ihn ist.
Mit dem Jugendamt am runden Tisch
Wichtig zu wissen ist allerdings: Aufgrund von Komplikationen hat seine Mutter ihn schon zwei Monate vor dem geplantem Geburtstermin zur Welt gebracht. Insofern vielleicht nicht überraschend, dass das Zimmer noch nicht picobello vorbereitet war? Und obwohl die Sorge um angemessene Pflege ein Stück weit gerechtfertigt ist – Thomas’ Mutter hat seit einer Krebserkrankung vor ein paar Jahren nur ein Bein und somit fallen ihr ganz allgemein alltägliche Dinge schwerer als anderen –, ist die Ärzte- und Schwesternschaft absolut nicht einverstanden mit der Entscheidung des Jugendamts. Nun wird für einen anderen Weg gekämpft. Eine Familienhilfe, die täglich vorbeikommt, die Mutter unterstützt und sich vom Kindeswohl überzeugt, ist momentan die angestrebte Regelung. Ich bin erleichtert über das Engagement des Chefarztes, der sich persönlich mit dem Jugendamt in Verbindung setzt und für einen ‚runden Tisch’ kämpft, ein Gespräch mit allen Involvierten. Und hoffe für die Mutter, die mir recht einfach gestrickt zu sein scheint, sich aber sehr fürsorglich um ihr Baby kümmert, dass sie Thomas schon bald zu Hause versorgen darf.
Ein Patient ist ein Patient?
Als ich die Untersuchungsergebnisse handschriftlich* dokumentiere, kommen die anderen Externes in das Ärztezimmer. Soeben wurde einer der mutmaßlichen Terroristen der Pariser Anschläge in unser Schwester-Krankenhaus eingeliefert. Einige unserer Kommilitonen machen gerade dort ihr Praktikum. Wir diskutieren über den Gewissenskonflikt, vor dem das OP-Personal (das ich aus meinem Praktikum in der Orthopädie zum Teil kenne) nun steht. Ein Patient ist ein Patient, und die Rolle des Arztes ist seine Versorgung. Aber letztendlich ist auch ein Chirurg, Anästhesist oder OP-Assistent ein Mensch, dem es durchaus schwer fallen dürfte, über die Hintergründe seines Patienten hinwegzusehen. Oder nicht? Wir sind uns nicht ganz einig.
Der Alltag im Krankenhaus läuft weiter wie bisher. Aber die Gesprächsthemen werden wie überall in Paris und Frankreich und zahlreichen anderen Ecken der Welt von der Tragödie geprägt, die alle ins Tiefste erschüttert hat. Und die in Pariser Krankenhäusern sehr unmittelbare Wellen schlägt.
*Obwohl ich noch nicht viele deutsche Krankenhäuser von innen gesehen habe, kann ich mir nicht vorstellen, dass es dort noch Häuser gibt, die die Patientendokumentation nicht am Computer machen. Zum Blog geht es hier.