„Und was hast du dazu zu sagen?“ Ich schüttle den Kopf. Mir fehlen schlicht und einfach die Worte. Der Sprache wegen? Selbst auf Deutsch fiele es mir schwer, den richtigen Ton zu treffen, um Mitgefühl und Ohnmacht auszudrücken.
Der freundliche Psychiater mit den buschigen dunklen Augenbrauen nickt verständnisvoll, eine dicke Sorgenfalte auf der Stirn und die Lippen fest zusammengekniffen. Er versteht meine Sprachlosigkeit angesichts dieser Situation.
Joy ist 13 Jahre alt. Ihr Vater arbeitet als Hausmeister im 14. Pariser Arrondissement. Die Familie selbst lebt in der Nähe der Klinik, im Norden von Paris. Grundsätzlich ein sozial schwaches Banlieue. Das ärmste in ganz Frankreich, der Ruf eilt ihm voraus. Der Arbeitgeber ihres Vaters hat Joy freundlicherweise erlaubt, gemeinsam mit ihrem Vater in seinem Haus zu leben. Seit Anfang September besucht sie nun ein renommiertes Lycée in Paris. Eine echte Chance. Doch diese Entscheidung wurde leider nicht aus reiner Nächstenliebe getroffen.
Der Versuch die Sorgen wegzulächeln
Seit einer Woche ist Joy im Krankenhaus und der Psychiater ist zufrieden mit ihrem Genesungsprozess. Keine Albträume mehr, keine Gedanken daran, sich aus dem Fenster zu stürzen. Joy scheint die sexuellen Annäherungsversuche ihres Wohltäters langsam zu verarbeiten. Eigentlich könnte sie sogar schon wieder entlassen werden. Wäre da nicht noch etwas. Joys Mutter hat rot geschwollene Augen. Übermüdet und erschöpft sitzt sie vor uns. Sie berichtet, ihr Mann habe Angst, seinen Job zu verlieren und sei deshalb nicht gerade erfreut darüber, dass mittlerweile die Polizei über die Vorfälle informiert worden ist. Er würde es sogar begrüßen, wenn Joy ihre Anschuldigungen – die Realität – zurückzöge. Joys Mutter ist es leid.
Sie scheint nun den Moment der Wahrheit nutzen zu wollen: Ihre Beziehung will sie beenden und gemeinsam mit ihrer Tochter ein neues Leben beginnen. Am liebsten umziehen in ein neues Viertel, alles hinter sich lassen. Nur wie? Es stellt sich heraus, dass sie seit einer Woche nicht mehr zu Hause war, sondern an der Seite ihrer Tochter auf einem zwar gemütlichen, aber nicht zum Schlafen geeigneten Stuhl nächtigt. Der Psychiater ist erstaunt und schockiert. Obwohl er Joy seit ihrer Ankunft regelmäßig untersucht und gesprochen hat, sieht er ihre Mutter heute zum ersten Mal. „Weil sie zwischendurch rausgeht!“, erklärt Joy. So einfach ist das. Joy ist tapfer. Sie versucht, die Sorgen ihrer Mutter und den Ernst der Lage wegzulächeln. Für heute Nachmittag wird ein Termin mit einer Mitarbeiterin des Sozialamts vereinbart.
Magersucht und seltener Besuch der Eltern
Diese Woche bin ich auf der Station für Jugendliche. Die meisten von ihnen sind wegen psychischer Probleme hier. Chizara hat Magersucht, Auslöser unbekannt. Sie ist eine gute Schülerin und kommt aus einer heilen Familie. Seit drei Monaten ist sie im Krankenhaus. Zum Glück hat sie dank hochkalorischer Nahrung durch eine Magensonde über 10kg zugenommen, anfangs wog sie mit ihren 1,53m nur 28kg. Mittlerweile isst sie schon wieder fast ausreichend selbst.
Umid ist 14 Jahre alt, aber sieht aus, als wäre er elf. Er geht ununterbrochen den Flur auf und ab und möchte mit Ärzten und Schwestern reden, braucht Aufmerksamkeit und will beruhigt werden. Auch letzte Woche habe ich ihn schon ein paarmal umhergeistern sehen. Aus heiterem Himmel hat er letzten Monat eine Psychose entwickelt, Stimmen in seinem Kopf gehört und sehr unter Angst- und Panikattacken gelitten. Auch jetzt zittert er immer wieder am ganzen Körper. Besuch von seinen Eltern darf er nur noch dreimal die Woche bekommen, weil dem medizinischen Personal aufgefallen ist, dass sich sein Zustand durch den Kontakt verschlechtert. Warum, ist unklar.
Auf Fotos ist die Welt noch in Ordnung
Umid zeigt mir sein Zimmer, an der Wand hängt ein Familienbild aus sorgloseren Tagen vor zwei Jahren: Ein Ausflug ins Disneyland, umrandet mit den wohlvertrauten Figuren aus der Märchenwelt, in der das Gute und das Böse angenehm klar verteilt sind und die Welt noch seine Ordnung hat. Ein glückliches Paar mit seinem halbwüchsigen Nachwuchs. „Hübsch ist sie, deine große Schwester.“ Umid nickt ernsthaft und stellt sich aufrecht neben mich, die Augen fest auf das Foto geheftet. Seine Stimme klingt sehr weich. „Elle est trop belle, ma sœur, trop belle.“*
Es bricht mir das Herz.
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*zu Deutsch: Sie ist zu schön, meine Schwester, zu schön.