Nach der Studie 'Health Literacy in Deutschland' der Bielefelder Professorin Doris Schaeffer fällt es mehr als der Hälfte der Deutschen (54,3 Prozent) schwer, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden.
Bereits die Ergebnisse einer Untersuchung aus Nordrhein-Westfalen hatten belegt, dass vor allem Menschen mit Migrationshintergrund, geringem Bildungsgrad und Ältere unterstützt werden müssen.
Sie hätten beispielsweise Schwierigkeiten, Beipackzettel zu verstehen oder Informationen einzuschätzen. 44,5 Prozent der fast 2.000 Befragten äußerten Unsicherheit, die Vor- und Nachteile von verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten zu beurteilen.
Ähnlich sieht es bei der ärztlichen Zweitmeinung aus: 49,3 Prozent der Deutschen empfinden es laut der Studie als „schwierig“, zu beurteilen, wann diese sinnvoll ist. „Ein großer Teil der Bevölkerung kann das Gesundheitssystem nicht effektiv nutzen und sich kompetent darin bewegen“, ist das Fazit von Studienleiterin Professor Doris Schaeffer.
Das moderne „Literacy“
Doch was ist eigentlich „Health Literacy“? Korrekt ins Deutsche übersetzt wäre das eine möglichst umfassende Kunde von Gesundheit. „Literacy“ im engeren Sinne ist die Fähigkeit, mit basalen Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen umgehen zu können („Literacy is traditionally understood as the ability to read, write, and use arithmetic“).
Der Begriff „Literacy“ ist durch die moderne Sozialforschung umfassend erweitert und modernisiert worden: „The modern term's meaning has been expanded to include the ability to use language, numbers, images, computers, and other basic means to understand, communicate, gain useful knowledge and use the dominant symbol systems of a culture. The concept of literacy is expanding in OECD countries to include skills to access knowledge through technology and ability to assess complex contexts“, so Wikipedia.
Wissenschaftstheoretischer Wasserkopf
Damit ist die „Gesundheitskunde“ als umfassendes Schul- und lebenslanges Lern-Fach zu Sprach-, Zahlen-, Bilder-, Computer-, Verständnis-, Kommunikations- und Semiotik-Wissenschaften hochstilisiert worden, um technologischen Wissenserwerb und Verständnis komplexer Zusammenhänge zu erreichen.
Mit diesem wissenschaftstheoretisch völlig überladenen „Wasserkopf“ wollen sich Medizin-, Krankheits- und Versorgungs-bildungsferne sozialwissenschaftliche Experten/-innen als Gesundheitsforscher und Gesundheitswissenschaftler profilieren und über ihren neuen Wissenszweig Alleinstellungsmerkmale und weiteres Herrschaftswissen aufbauen. Die niedergelassenen Vertragsärzte, insbesondere die primär bei Krankheits-, Gesundheits- und Präventionsfragen in Anspruch genommenen Familien- und Hausärzte wurden in einer sich permanent verändernden Wissenschafts-Gesellschaft in einem dauerhaften Diskurs über unterschiedliche Bewältigungs-Strategien bei Schwangerschaft, Geburt, Leben, Krankheit, Gesundheit, Vorsorge, Früherkennung, Chronizität, Behinderung, Palliation und Sterben gar nicht erst berücksichtigt.
Humanmedizin falsch eingeschätztz
Was hat das alles mit der medizinischen Profession, mit Ärztinnen und Ärzten oder mit unseren Patienten/-innen in Klinik, Forschung und Praxis zu tun? Unser humanmedizinisches „Kerngeschäft“ mit Krankheiten bzw. Krank-Sein unserer Patienten über Anamnese, Untersuchung, Differenzial-Diagnosen, Beratungen, multidimensionalen Therapien, Palliation, privat- und vertragsärztlicher Praxis, Krankenhäuser und Universitäten wurde und wird von allen Vertretern der alleinigen Aspekte „Gesundheit“ und „Gesundbeten“ falsch eingeschätzt.
Das DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information) beschreibt einige zehntausend Krankheitsentitäten nach der Internationalen ICD-10-GM-Nomenklatur: Nach ICD-Diagnosen-Thesaurus, Version 4.0, wurden ca. 31.200 beschrieben. Die aktuelle Version der ICD-10 GM 2014 listet in seiner Systematik ca. 13.400 endständige Kodes auf und verfügt in seinem ICD-10 Alphabet über ca. 76.900 Einträge in der EDV-Fassung.
Unsere Kernkompetenz sind die Zehntausenden von Krankheitsentitäten, die ambulanten/stationären Pharmako- und Physiotherapien, Heilbehandlung, Operationen, Injektionen/Infusionen, Kuren, Minimalinterventionen oder Hybrid-OPs: Bei Herz- und Hirn-Infarkten, ACS, Herzfehlern, Aneurysma, Miss- und Fehlbildungen, Lungenembolien, akutem Abdomen, eingeklemmten Hernien, KHK, systolischen/diastolischen/pulmonalen Hypertonien, Hyperlipidämien, PAVK, Mesenterialinfarkten, Tumorkrankheiten, Kachexie und Marasmus, zerebralen Krampfanfällen, Gallenstein- und Nierensteinkoliken, entgleisten Typ-1 und 2-Diabetes Krankheiten und Komplikationen, Addison-Krisen, Thyreotoxikosen, Nierenversagen, dekompensierter Herzinsuffizienz, Infektionen mit Viren/Bakterien/Pilzen/Parasiten/Prionen oder chronischen Schmerzen, um nur Einiges zu nennen.
Medizinische Wissenschafts- und Erkenntnistheorie im Fluss
Da hilft auch eine wie auch immer geartete "Health Literacy" unseren Patienten/-innen nicht weiter. Zumal sich medizische Erkenntnisse in Anamnese, Untersuchung, Differenzialdiagnostik, Labor, Apparate-Medizin, Psychosomatik, mehrdimensionaler Therapie, Schmerzlinderung, Palliation und Sterbebegleitung permanent weiterentwickeln, in Frage stellen oder revidieren lassen müssen. Trotzdem wird gegenüber Medien, Politik und Öffentlichkeit insbesondere von Medizinbildungs- und Versorgungsfernen Schichten in Wissenschaft und Praxis immer so getan, als ob Patienten selbst wesentlich klüger und allwissender sein müssten bzw. könnten, als ihre behandelnden Ärztinnen und Ärzte. Ein einheitlich zuverlässig beurteilbares Laien- und Expertenwissen kann es, wie in allen anderen Wissenschaftsdisziplinen auch, schon gar nicht in der Humanmedizin mit ihrer ständig changierenden "conditio humana" geben.
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