In dem kleinen Raum ist es kalt, jemand hat das Fenster offen gelassen, ohne mit dem plötzlichen Temperaturabfall zu rechnen; es hat sich abgekühlt nach dem Regenschauer gestern Abend, dem ersten seit meiner Ankunft in Paris vor gut drei Wochen. So kalt, dass mir aufgefallen ist, dass ich noch gar nicht weiß, wie die Gasheizung in meiner Wohnung funktioniert.
Ich setze mich in die zweite Reihe der gepolsterten Klappstühle, die hintere. Auf den vorderen Plätzen sitzen keine Studenten, sondern die Oberärzte und Assistenten. Eine feste Regel ist das wohl nicht, aber es hat auch nicht nur hierarchische Gründe: Es ist sinnvoll, dass die behandelnden Ärzte weiter vorne sitzen, sie werden während der Besprechung immer wieder aufstehen und sich die Röntgenbilder an der Leuchttafel genauer ansehen.
Ich bin die Erste, es ist 08:13h, um Viertel nach beginnt die morgendliche Besprechung. Nur eine Assistenzärztin hat schon den Computer angeschaltet und öffnet CT- und MRT- Aufnahmen. Deutsche Pünktlichkeit, könnte man meinen. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Sicherlich gibt es einige Studenten, die erst gegen neun eintrudeln werden, weil sie der Besprechung, die in erster Linie die Ärzte betrifft, keine große Wichtigkeit beimessen; oder zumindest weniger als einer extra Portion Schlaf.
Es gibt aber auch die fleißigen, engagierten Kommilitonen, die bereits vor mir im Krankenhaus waren und nun im Arztzimmer noch damit beschäftigt sind, sich anhand der Akten einen Überblick über ihre Patienten zu verschaffen: Diejenigen, die schon gestern da waren und die möglicherweise operiert wurden oder deren Zustand sich verändert haben könnte. Und diejenigen, die neu sind in einem der ihnen zugeordneten Betten und die sie ab heute betreuen werden. Das ist vorbildlich und sinnvoll, denn in der Morgenbesprechung können sie dann bereits ihre Patienten betreffende Informationen aufschnappen. Ich kann trotzdem auch die Langschläfer verstehen: Im Laufe des Vormittags wird noch genug Zeit sein, sich mit Akten und Patienten zu auseinanderzusetzen.
Ich betreue seit gestern auch eine Patientin. Unter der Aufsicht einer anderen 'Externe' (so nennt man hier im Krankenhaus die Studenten) habe ich sie untersucht und die Ergebnisse dokumentiert. Das kann ich mittlerweile auf Französisch besser als auf Deutsch, denn dort wurde das von uns Studenten bislang nicht erwartet. Oder vielleicht doch, in der ein oder anderen Famulatur, aber nicht in der Uni. Auf jeden Fall habe ich es noch nie machen müssen. Sinnvoll wäre es gewesen nach den Terminen im Untersuchungskurs, aber da gab es immer noch so viele andere Dinge zu erledigen und zu erleben...
Bei der Untersuchung von Madame B. haben wir gestern ein Herzgeräusch gehört, Hinweis auf eine Aortenklappeninsuffizienz, was allerdings schon bekannt war. Trotzdem spannend für einen Neuling, als der ich mich fühle. Ich bin gespannt, ob die für gestern Nachmittag geplante Operation meiner Patientin stattgefunden hat. Oder ob sie - wie häufig der Fall - aufgeschoben wurde. Ihr rechter Unterschenkel ist nach einem Sturz verletzt, distale Tibiafraktur mit posteriorer Luxation des Talus. Der Bruch soll mit einer Platte geschient werden, ein notwendiger, aber kein dringender Eingriff. Auch wenn es für die Patienten, die teils zwei oder drei Tage auf ihre Operation warten müssen, nervenaufreibend und anstrengend ist: Die Kapazitäten der OP-Säle reichen nicht immer aus, insbesondere, wenn zum Beispiel ein anderer Eingriff länger dauert als erwartet oder ein Notfall direkt behandelt werden muss. So ist das nun mal, auch in einer reichen westeuropäischen Industrienation.
Die Ärzte sind eingetroffen und nun geht es los. Gut ausgelastet ist man auch hier, die Besprechung geht rasch über die Bühne. Die seit gestern durchgeführten Operationen werden vorgestellt, ebenso die Eingriffe, die heute vorgenommen werden sollen. An Patienten, die schon auf der Station warten, und an denen, die nachts in die Notaufnahme gekommen sind. Der OP-Plan wird erstellt. Gestern wurde Madame B. nicht mehr operiert, aber heute steht sie an zweiter Stelle. Eine gute Nachricht, die ich ihr gleich werde überbringen können. Zum Blog geht es hier.
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