Wenn sich Ethik und Ökonomie gegenüberstehen, scheint trotz aller Bemühungen zu oft die Macht des Geldes zu siegen. Die Grundwerte unserer Gesellschaft haben nicht nur sprichwörtlich ihren Preis. Aber was ist unser Preis? Leisten wir uns den Luxus, uns selbst ein paar wichtige Fragen zu stellen!
Der tägliche Kampf
Der Deutsche Ethikrat schreibt in seiner Pressemitteilung 03/2016 von einem „zunehmenden ökonomischen Druck, insbesondere auch auf den Krankenhaussektor“, der „zunehmend Fragen nach dem leitenden normativen Maßstab der Krankenhausversorgung aufwirft.“ Weiter spricht er von einer „zunehmenden Schwierigkeit für die im Krankenhaus Tätigen, ihre berufsethischen Pflichten umzusetzen.“
Wie kann es sein, dass eines der besten Gesundheitssysteme weltweit uns zwingt, die in den Grundwerten unserer Gesellschaft verankerten berufsethischen Maßstäbe einschränken zu müssen?
Unsere Grundwerte werden von Individuen hoch geschätzt, aber von eben jenen unter der Knute der Ökonomie regelmäßig ausgehebelt. Als eines der teuersten Gesundheitssysteme müssen wir uns die Frage gefallen lassen: Warum können wir mit so viel monetärem Aufwand anscheinend nicht genug erreichen?
Nachfolgend sollen – ganz im Sinne der Ethik – Hilfestellungen, überwiegend in Form von Fragen, behandelt werden, die es am Ende jedem selbst gestatten, eigene Antworten leichter zu finden. Dabei ist mir bewusst, dass manche Beispiele eher provokativen Charakter haben als dass sie wirklich eine Gegenüberstellung erlauben.
Was ist unser Preis?
Ich möchte folgende Vorstellungen in eine fiktive Waagschale legen. Da wäre zum einen Artikel 1 (1) des deutschen Grundgesetzes:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Gleich der zweite Artikel führt im zweiten Absatz bekanntlich an: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“
Als fiktives Gegengewicht soll uns der Begriff des Geldes dienen (eigentlich eine nette Vorstellung, dass Geld uns dient, oder?). Dazwischen stehen wir nun als Individuum oder Institution und ermitteln daraus subjektive Werte, mit denen wir den Alltag bestreiten.
Dabei stellt sich doch die Frage: Soll, darf oder muss die Waage unausgeglichen sein? Dass der Deutsche Ethikrat diese alarmierende Mitteilung verfasst, zeigt doch mindestens, dass eine Homöostase aus dem Gleichgewicht gebracht wurde.
Viele Fragen
Um diese Homöostase zu verstehen, sind meiner Ansicht nach die folgenden Fragen von großer Bedeutung:
Auf die erste Frage gibt der Ethikrat eine Antwort, implizit auch darauf, welche Werte wir leben wollen.
Was wir uns hingegen leisten wollen, ist vermutlich weniger einfach zu beantworten. Medizin auf dem aktuellsten Stand der Forschung? Oder soll der Schwerpunkt eher auf einer guten Basisversorgung liegen? Sollen wir also mehr forschen oder lieber mehr Geld in KV-Sitze für Vertreter der sprechenden Medizin stecken?
Soll der 85-jährige Patient eine neue Hüfte erhalten oder sind wir in diesem Punkt unflexibel, wie beispielsweise das englische System, und bezahlen diese nur bis zu einer bestimmten Altersgrenze? Sollen wir mehr Pflegekräfte einstellen, um die Mortalität auf Stationen zu senken oder haben wir lieber wirtschaftliche Krankenhäuser, die den Steuerzahler nicht belasten, weil sie privat geführt werden?
Sollen Ärzte lieber, wie wiederum beispielsweise in England, mehr ihren Fähigkeiten zur Untersuchung vertrauen oder gönnen wir uns neueste Technik, um „objektive“ Ergebnisse zu schaffen?
Sollte, möchte oder muss jeder einzelne mehr in das Gesundheitssystem investieren, um dessen Nachhaltigkeit zu gewährleisten?
Aktuell muss ich dem Ethikrat zustimmen, wenn er sagt, dass berufsethische Grundsätze nicht immer eingehalten werden können. Der Reformprozess muss große Schritte wagen, wenn wir zukünftig gewonnene Erkenntnisse der Forschung nicht über Bord werfen wollen. So ist eine gute, ausführliche Anamnese immanent – doch wie oft scheint keine Zeit mehr, sie zu erheben?
Ich wünsche mir, dass dieser Prozess baldmöglichst darin fußt, dass „die Politik“ unsere Fragen irgendwann nicht mehr zuvorderst zuhört, um daraufhin die eigene Rhetorik blitzschnell unter Beweis stellen zu können, sondern um zuzuhören.
Ohne die entsprechenden rechtlichen Rahmenbedingungen fürchte ich wird es schwierig werden, einem Geschäftsführer, der sich kurzfristig für seine Zahlen rechtfertigen muss, nachhaltige, ethische Grundsätze abzuverlangen. Ob er den gleichen Druck verspürt wie ein im Krankenhaus Tätiger, der sich entscheiden muss, welchem Patienten er nun nötige Zeit nicht geben kann?
Sind wir letztendlich bereit, die Konsequenzen für Veränderungen zu tragen? So, wie wir zurzeit das aktuelle System mit tragen?
Unbequemer Luxus
Abseits der gefühlt aufgezwungenen politischen Entscheidungsgewalt meine ich, dass wir unsere Antworten auf diese Fragen tagtäglich leben. Mein persönliches Ziel ist es, diese Antworten aus dem Rauschen der täglichen Routine herauszufiltern und bewusst zu geben.
Gönnen wir uns den Luxus, in einem der besten Gesundheitssysteme weltweit das zu tun, was uns erst hierhin gebracht hat und weiterbringt: Nachzudenken. Die Idee, Dinge verändern zu wollen und zu können. Das ist unbequem. Aber es bringt uns weiter.
Doch wie wird am Ende aus dem individuellen Gefühl der Gerechtigkeit und Ethik ein allgemeingültiges Recht? Das Schlusswort möchte ich Atul Gawande überlassen, einem amerikanischen Chirurgen:
„Science has brought us thousands of things we can do [...]. We’re confronted with the complexity of society now, and the experience of actually dealing with it, is painful. We’re in the machine. All we can do is try to think in morally clear terms about our goals and try to be creative.“
Quellen:
http://www.ethikrat.org/presse/pressemitteilungen/2016/pressemitteilung-03-2016
http://atulgawande.com/