Es herrscht ein aufgeregtes Treiben auf der Station. Die zwei Computer, die sich auf der Station knapp zehn Studenten teilen, sind hoch begehrt. Jeden Moment kann es losgehen. Eifrig gehen die Studenten noch einmal die Krankenakten ihrer Patienten durch und kleben Röntgenbilder gut sichtbar an die Zimmerfenster. Vorbereitung der Chefarztvisite – die Studenten werden ihre Patienten vorstellen.
Als Prof. Rosier endlich da ist, dauert es trotzdem bis die Visite beginnen kann. Der alte Laptop lässt sich nicht anschalten, eigentlich hätten die Schwestern ihn aufladen sollen. Und wenn die Studenten das Bereitstellen des Computers als eine ihrer Aufgaben verstanden hätten, wäre das Problem früher aufgefallen. Nicht zum ersten Mal kommt mir der Begriff „Prozessmanagement“ in den Sinn: Viele Konflikte, die ich beobachte, wären vermeidbar, wenn alle Beteiligten genau wüssten, was von ihnen erwartet wird. Insbesondere Rollenbeschreibungen für die Externes (Studenten) und Internes (Assistenzärzte) wären sinnvoll, denn beide rotieren im drei- bzw. sechs-Monate-Takt und daher sind auf der Station ständig wechselnde Teams tätig.
Merci à vous tous
Der riesige Trupp aus Chefarzt, zwei Oberärzten, einer ‚Interne’ und ca. zwölf Studenten erhält Einzug ins erste Zimmer. Monsieur L., 22 Jahre alt, ist seit gestern auf der Station: Nachdem er versucht hat, mit dem Ellbogen eine doppelt verglaste Scheibe einzuschlagen, liegt er nun mit genähtem Nervus Ulnaris in seinem Bett. Der hübsche junge Mann schaut Prof. Rosier mit weit aufgerissenen Augen eindringlich an. Auf einem Papier hat er sich seine Fragen notiert: Wird er seinen kleinen Finger wieder bewegen können und verschwindet das Taubheitsgefühl? Ist sein Fall ernst? Kann es gar sein, dass er seinen ganzen Arm verlieren wird? Er tut mir Leid und ist irgendwie niedlich, sehr besorgt, sehr aufrichtig, etwas langsam von Begriff. Prof. Rosier kann ihm seine Ängste nicht komplett nehmen: Nach einer peripheren Nervenläsion können bleibende Schäden entstehen, trotz eines raschen Eingriffs, wie hier der Fall. Aber nein, seinen ganzen Arm werde er auf keinen Fall verlieren, im schlimmsten Fall werde die Situation so bleiben, wie sie ist, aber davon gehe er nicht aus. Monsieur L. sieht immer noch sehr besorgt aus, aber er bedankt sich, „Merci à vous tous“. Gute Besserung, Monsieur L.!
In Shaa Allah
Die nächste Patientin ist über achtzig Jahre alt und hat eine komplizierte Unterschenkelfraktur. Sie leidet sehr darunter, an ihrem Bett gefesselt zu sein, obwohl aus medizinischer Sicht alles eine gute Entwicklung nimmt. Prof. Rosier drückt ihr fest die Hand und erklärt, dass ihre Genesung Arbeitsteilung ist: Er und sein Team würden sich um ihr Bein kümmern, sie dürfe die Hoffnung nicht verlieren, müsse stark bleiben und vor allem gut essen und trinken. Dann gehe alles gut. Die Patientin schluckt tapfer, „In Shaa Allah“.
Ein Schusswechsel und ein Wortgefecht
Als ich in den nächsten Raum eintrete, ist Prof. Rosier bereits in ein Wortgefecht mit dem 25-jährigen Patienten geraten. Ausgesprochen respektlos beschwert sich dieser über die vielen Leute, die ungefragt in sein Zimmer kämen und wirft Prof. Rosier vor, dieser hätte sich nicht bei ihm vorgestellt und will auf keinen Fall seine Wunden am Bein zeigen und sich behandeln lassen – „Fass mich nicht an“. Prof. Rosier versucht zu deeskalieren, aber der Patient ist in Rage geraten und scheint generell auf Krawall gebürstet zu sein. Da er sich nicht beschwichtigen lässt und anfängt, den Chefarzt aufs Gröbste zu beleidigen, lässt Prof. Rosier von ihm ab. Vor der Tür beschließt er kurzerhand, den Wünschen des Patienten nachzugeben und ihn nicht selbst zu behandeln. Die beiden Kugeln, die ihm durch die Beine gegangen sind, haben die Knochen und Arterien nicht verletzt, das haben die Untersuchungen bereits ergeben, insofern ist er weder besonders schlimm verletzt noch ein orthopädischer Patient. Er wird auf die Allgemeinchirurgie verlegt, so einfach. Doch erst einmal bekommt er noch Besuch von zwei Polizisten, die einem Schusswechsel natürlich nachgehen müssen.
Nach gut zwei Stunden sind alle Patienten versorgt. Ich bin beeindruckt von Prof. Rosiers Geduld: Er hat sich nicht nur ausführlich mit der Krankengeschichte eines jeden einzelnen auseinandergesetzt, sondern ist geduldig auf Ängste und Sorgen seiner Patienten eingegangen und hat sich mit ihrer Betreuungssituation nach dem Krankenhausaufenthalt auseinandergesetzt. Toll.
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Bildquelle: Mark Skipper, flickr