Hermann Gröhe arbeitet mit Hochdruck am Rx-Versandverbot. Mittlerweile häufen sich kritische Stimmen. Geht es dem Bundesgesundheitsminister wirklich, wie er sagt, um Patienteninteressen? Oder kann die Apothekenlobby vielmehr einen großen Sieg für sich verbuchen?
Patienten reden Klartext: „Meine Frau (Rente netto 286,48 Euro) und ich (Rente netto 501,39 Euro) wünschen guten Erfolg gegen den Lobbydrachen“, schreiben Andreas und Beate B. Der Kunde Hans Z. ergänzt: „Ich habe die Rabatte auf Rezept sehr begrüßt. Nun will unser Gesundheitsminister den Versand bei Rezepten gänzlich verbieten. Was können wir Patienten tun, um dies zu verhindern? Ich kaufe da, wo ich will. Unsere Apotheken sollen endlich Wettbewerb bekommen und sich nicht auf der Preisbindung ausruhen. Für den Notdienst fahre ich schon jetzt etliche Kilometer ... kein Argument, um abzuzocken.“ Preise sind eine Sache, aber die Beratung? Dieses Argument lässt Wolfram B. nicht gelten: „Ich bin seit Jahren bei einer holländischen Apotheke und bekomme mit jeder Bestellung eine Beschreibung der Wechselwirkungen mit den anderen dort bereits gekauften Medikamenten. So etwas habe ich in der örtlichen Apotheke noch nicht bekommen.“ Grund genug für DocCheck, der Frage nachzugehen, ob ein Rx-Versandverbot wirklich Patienten zu Gute kommt.
Zwei Drittel aller Patienten wünschen sich, Rx-Präparate weiterhin bestellen zu dürfen. Quelle: WiWo/Twitter Apotheker fragen sich, warum Kunden wie Andreas und Beate B. sich nicht mit einer Zuzahlungsbefreiung zufriedengeben. Derzeit geltende Grenzen von zwei Prozent der jährlichen Bruttoeinnahmen beziehungsweise einem Prozent belasten einkommensschwache Haushalte immer noch über Gebühr. Ausnahmen machen die Sache nicht besser. Arzneimittel, die höhere als die vom Festbetrag abgedeckten Kosten verursachen, werden bei der Belastungsgrenze nicht angerechnet. Dabei kann es sich um Pharmaka mit geringer therapeutischer Breite handeln, die sich nicht problemlos austauschen lassen. „Insbesondere chronisch Kranke, die im Monat mehrere Medikamente einnehmen, können bei der Bestellung bei ausländischen Online-Apotheken mehrere hundert Euro an Zuzahlungen sparen“, sagt Kai Vogel, Gesundheitsexperte beim Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv).
Das BMG will sich zu monetären Aspekten nicht äußern. Auf Nachfrage wurde lediglich bestätigt, man arbeite weiterhin an einem Rx-Versandverbot. Hermann Gröhe beruft sich auf einen aus seiner Sicht zentralen Aspekt. „Für die Menschen in unserem Land ist Qualität und Sicherheit in der Arzneimittelversorgung unabdingbar mit einem flächendeckenden Netz wohnortnaher Apotheken verbunden“, sagt der Christdemokrat. „Der Versandhandel kann die wohnortnahe Versorgung durch Präsenzapotheken nicht ersetzen.“ Er begründet seine geplante Gesetzesinitiative einzig und allein mit strukturellen Aspekten. Hat der Bundesgesundheitsminister wirklich Recht? Laut ABDA-Zahlen liegt der EU-Durchschnitt derzeit bei 31 Apotheken pro 100.000 Einwohner. In Deutschland sind es 24, in Frankreich 33, und in Polen 30. Was diese Zahlen genau aussagen sollen, bleibt unklar. Der Europäische Gerichtshof hatte in seinem Urteil moniert, es gebe keine Beweise für kausale Zusammenhänge zwischen Versorgungslücken und Rx-Boni. Das sieht der Bundesverband Deutscher Versandapotheken (BVDVA) ähnlich: Dr. Bernhard Rohleder von Bitkom weist auf entscheidende Vorteile hin: „Besonders im ländlichen Raum, für chronisch kranke, alte und mobil eingeschränkte Menschen ist der Online-Versandhandel der einfachste Weg zur Arzteimittelversorgung“, erklärt Rohleder. „Die Menschen wollen möglichst lange autonom zu Hause leben und gleichzeitig gut versorgt sein.“ Gesetzliche Krankenkassen warten ab. Vom GKV-Spitzenverband kommen aber deutliche Worte: „Gerade der Versandhandel kann dazu beitragen, dass die Versorgung von Patienten, die bereits heute im ländlichen Raum längere Anfahrtswege zu niedergelassenen Apotheken haben, verbessert wird“, so Johann-Magnus von Stackelberg. Der stellvertretende Chef des GKV-Spitzenverbandes setzt auf alle Vertriebswege, sprich auf Pick-up-Stellen, Versender und traditionelle Apotheken. Sein Fazit: „Jenseits der Lobbyinteressen der niedergelassenen Apotheker lässt sich kein Grund erkennen, warum der Online-Versandhandel mit Medikamenten pauschal verboten werden sollte.“
Viele Laien haben trotzdem Angst, rasch benötigte Medikamente stark verzögert zu bekommen. Und Standesvertreter gießen nur allzu gerne Öl ins Feuer. Tatsache ist, dass Betriebsstätten vor Ort viele Präparate auch vom Großhändler bestellen müssen. Logistiker rüsten ihrerseits auf. Amazon wirbt mit Lieferungen im Stundenbereich, wenn auch nicht bei Medikamenten. In Berlin zeigt der Versender Aponeo, dass zumindest „Same Day Delivery“ funktioniert. Dem Prinzip sind keine Grenzen gesetzt.
In diesem neuen Umfeld sieht die ABDA vor allem Arbeitsplätze gefährdet: ein komplexes Thema, das sich nicht auf einfache Sachverhalte reduzieren lässt. Deutschland muss gleiche Bedingungen schaffen. Ansonsten klagen sich Marktteilnehmer quer durch alle Instanzen. Sollte der Gesetzgeber auch bei uns die Rx-Preisbindung für nichtig erklären, erwarten Gesundheitsökonomen folgenden Effekt: Große Apotheken, Filialverbünde oder Mitglieder in Kooperationen geben Einkaufsvorteile an Patienten weiter. Kleine Apotheken gehen zu Grunde. Patienten bleiben trotzdem erhalten. Sie suchen sich andere Apotheken. Die Großen wachsen und benötigen Personal – die Kleinen verschwinden. Neue Jobs sind nicht mehr unbedingt wohnortnah. Es ist auch nicht Aufgabe von Patienten, dafür zu sorgen.
Angesichts der vielen Argumente gegen Gröhes Verbot regt sich auch in Berlin Widerstand. Eine Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums wollte sich auf Anfrage von DocCheck nicht zu Bedenken ihres Hauses äußern. Umso deutlicher sind Statements von Dr. Rainer Sontowski. Der Staatssekretär im BMWi sagte bei einem Kongress, man müsse auch Alternativen zum Verbot des Rx-Versands prüfen. „Zum Beispiel, ob zur Erhaltung der flächendeckenden Versorgung ein Nachteilsausgleich gewährt werden kann, oder ob nicht ein Teil des Festzuschlages für den Wettbewerb zwischen den Versorgern, gleich ob Apotheke oder Versandhandel, freigegeben werden kann.“ Professor Dr. Achim Wambach, Chef der unabhängigen Monopolkommission, lehnt Gröhes Ideen ebenfalls ab. Sein Gremium berät die Bundesregierung. „Durch eine solche Maßnahme wird der Wettbewerb mit Medikamenten im Versandhandel behindert, obwohl gerade dieser künftig an Bedeutung gewinnen wird“, warnt Wambach. Auch der Koalitionspartner schießt quer. Professor Dr. Karl Lauterbach erklärte, die SPD sei nicht für „Schnellschüsse unter dem Lobbydruck und zugunsten der Apotheker“ zu haben. Sein Arzneimittel-Versorgungsstärkungsgesetz (AM-VSG) musste Hermann Gröhe jedenfalls ohne Rx-Versandverbot auf den Weg schicken. Ob er noch kurz vor der Bundestagswahl einen Koalitionskrach provoziert, ist unwahrscheinlich. Von neuen Honorierungsmodellen, die Beratungen vergüten, würden alle Beteiligten deutlich stärker profitieren.