Es gibt Krankheiten, die sind eigentlich keine – trotzdem werden sie im großen Stil behandelt. So therapieren Ärzte plötzlich Prädiabetes und verschreiben Hormone in der Andropause. Die Pharmaindustrie erfindet Leiden, um mehr Medikamente zu vermarkten.
Immer wieder wird die Pharmaindustrie dafür kritisiert, sich ihren eigenen Markt zu schaffen, indem sie neue Leiden erfindet die eigentlich nicht therapiebedürftig sind. Disease Mongering nennt man ein solches Vorgehen in der Fachwelt. Aber woran sind erfundene Krankheiten zu erkennen, wenn die Grenzen zwischen gesund und krank ja oft genug fließend verlaufen? Ingrid Mühlhauser ist Professorin für Gesundheitswissenschaften an der Universität Hamburg und Vorsitzende des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (DNEbM). „Disease-Mongering ist seit vielen Jahren ein Problem‟, sagt sie. Mühlhauser nennt zwei Voraussetzungen für eine behandlungswürdige „echte‟ Krankheit. Erstens: Es müssen relevante pathopysiologische Veränderung oder Symptome vorliegen, denen man einen Krankheitswert beimessen kann. Zweitens, und nicht zu vergessen: Es muss genügend Evidenz dafür geben, dass eine Behandlung deutlich mehr nützt als schadet.
Wenn nicht beide Voraussetzungen erfüllt sind und trotzdem im großen Stil eine Behandlung beworben und durchgeführt wird, könne man von einem Disease Mongering sprechen. Oft werde Symptomen künstlich Relevanz verliehen, indem man ihnen einen neuen Namen gibt. Ein im oberen Normalbereich liegender Blutzuckerspiegel gelte dann plötzlich als Prädiabetes: „Dabei wurden die Grenzwerte immer weiter abgesenkt. Und beweisen, dass eine frühe Senkung des Blutzuckerspiegels hilft, konnte man bis heute nicht‟, sagt Mühlhauser. Das willkürliche Verändern von Werten, die Krankheiten definieren, sei ein typisches Beispiel für Disease Mongering. So sei auch der Grenzwert für Bluthochdruck seit den 80er Jahren mehrfach gesenkt worden – womit man jedes mal Millionen von Menschen neu als behandlungsbedürftig einstufte. Nachdem es aus der Fachwelt Kritik gehagelt hatte, wurde der Wert dann wieder leicht angehoben, auf die heute gültigen 140/90 mmHg, die mehrmals zu messen sind. Sowohl bei Bluthochdruck als auch bei den Blutzuckerwerten gebe es inzwischen Belege dafür, dass eine beständige Absenkung der Werte Patienten mehr schaden kann als sie nützt, wie Mühlhauser auch in einer Publikation von 2013 schildert.
Ein weitere Art von Disease Mongering sei das Umdeuten natürlicher Vorgänge in Krankheitsbilder. Aus normaler Trauer werde dann eine depressive Verstimmung, ein Kind das aufgeweckt sei, habe heute plötzlich ADHS und die passende Pharmakotherapie werde mit der Diagnose mitgeliefert. In diesen Bereich fällt für Mühlhauser auch die „Pathologisierung der Wechseljahre inklusive Hormonsubstitution‟, bei der man nach den Frauen jetzt die Männer ins Visier fasse. Tatsächlich hört man nun immer öfter von den männlichen Wechseljahren oder der Andropause – obwohl das Konzept höchst umstritten ist. Parallel dazu steigt der Absatz von Testosteronpräparaten bei fraglicher Schaden-Nutzen-Lage. Auch andere Erscheinungen des Alters würden mit Absicht zur Krankheit gemacht, um einen Absatzmarkt für Medikamente zu vergrößern. Als weiteres Beispiel nennt Mühlhauser die Bestimmung der Knochendichte. 1994 wurde eine WHO-Richtlinie erarbeitet, in der die Knochendichte als Diagnosekriterium für Osteoporose festgelegt wird, und die außerdem besagt, dass Osteoporose der Hauptrisikofaktor für Brüche bei älteren Menschen ist. Mitfinanziert war die Richtlinie von der pharmazeutischen Industrie, die ein Jahr später das erste Medikament zur Erhöhung der Knochendichte auf den Markt brachte. Bis heute wird die Knochendichte mit Medikamenten gesteigert, um Brüchen vorzubeugen – bei mangelhaftem Nutzenbeleg und unangenehmen Nebenwirkungen. Hingegen scheinen nebenwirkungsfreie Trainings zur Sturzvorbeugung das Risiko für Brüche laut einer Metastudie deutlich senken zu können. Eines der jüngsten Beispiele, das als Disease Mongering in der Kritik steht: Frauen, deren Lust auf Sex im Alltag zwischen Beruf und Familie abnimmt, sollen unter einer medikamentös zu behandelnde Sexualstörung leiden. (Männer, die nicht immer können, ja ebenso).
„Patienten könnten selbst nicht beurteilen, ob ein Disease-Mongering vorliegt‟, sagt Mühlhauser. „Ihnen wird dann gesagt, sie sollen den Ärzten vertrauen.‟ Aber auch von den Medizinern werde es oft nicht erkannt. Einen Grund dafür sieht Mühlhauser in der Art, wie Ärzte ausgebildet werden. „Im Medizinstudium liegt der Fokus auf der Pathophysiologie: Was sehe ich auf einem Röntgenbild, was kann ich im Blut messen? Die kritische Wissenschaft hingegen kommt deutlich zu kurz.‟ Um Disease Mongering zu erkennen, müssten Ärzte im Beurteilen und Hinterfragen von Studien geschult sein. Noch dazu müssten sie bereit seien, Empfehlungen der Fachgesellschaften auch einmal zu hinterfragen – weil diese häufig von den Medikamentenherstellern mitbeeinflusst würden. Nicht zuletzt seien Ärzte ja auch selbst eine beliebte Zielgruppe für das Marketing der Pharmaindustrie. „Viele lassen sich täuschen und betrügen‟, sagt Mühlhauser. Zudem seien zu Vermarktungszwecken konstruierte Krankheitsbilder für die Ärzte dankbar zu behandeln: „Meistens wird eine überflüssige Medikation ja überstanden. Und Symptome verschwinden – wenn überhaupt vorhanden – ohnehin praktisch von selbst wieder.‟ Interesse am Disease Mongering hat also nicht nur die Pharmaindustrie. Es kommt auch vielen Ärzten entgegen. In anderen Fällen profitierten weitere Branchen, sagt Mühlhauser. Wie zum Beispiel beim Übergewicht: Vom Diätassistenten, über Fitnessstudios bis zu den Herstellern von Light-Produkten hätten viele ein Interesse daran, es zur Krankheit zu machen. Dabei sei die gängige Definition mithilfe des BMI klassisches Disease Mongering. „Seriöse Studien zeigen immer wieder, dass ein BMI von 27 – per Definition also leichtes Übergewicht – Gesundheitsvorteile bringt, und bei vielen Krankheiten sogar widerstandsfähiger macht‟, so Mühlhauser. „Das kann man ganz einfach nicht Krankheit nennen.‟
Aber wie sehen Ärzte eigentlich das Problem? Klaus-Dieter Kossow war langjähriger Bundesvorsitzender des Deutsche Hausärzteverbands und Honorarprofessor für öffentliche Gesundheit und Gesundheitsmanagement an der Universität Bremen. „Allein die Tatsache, dass sich Grenzwerte ändern ist nicht unbedingt ein Hinweis auf Disease Mongering. Schließlich ändern sich Erkenntnisse und die Forschung geht weiter‟, sagt der Allgemeinmediziner. Seiner Meinung nach ist auch die hausärztliche Versorgung wenig anfällig dafür, die Behandlung erfolge schließlich standardisiert. Das größte Einfallstor für Mongering sieht er in der fachärztlichen Versorgung. Fachärzte mit ihren zahlreichen angebotenen Zusatzleistungen hätten „ein Interesse daran, Innovationen zu propagieren.‟ Zudem setzten deren Fachgesellschaften „Normen, die interessenpolitisch beeinflusst werden.‟ Falsch läuft hier aus Kossows Sicht auch die „immer weiter fortschreitende Subspezialisierung, um neue Märkte zu schaffen.‟ An einer Krankheit wie Typ-2-Diabetes würden heute nicht nur spezialisierte Diabetologen, sondern auch Podologen, Nerven- und Augenärzte verdienen. Dabei würden vor allem die Folgen behandelt, ohne die Krankheit an der Wurzel zu packen. Anstatt von Anfang an stärker darauf zu setzen, dass Hausärzte eine Lebensstiländerung bei den Patienten erwirken können – um Folgeschäden vorzubeugen. „Auf diese Weise aus einer Krankheit plötzlich viele zu machen und das bei einer Krankheit, die die Patienten am besten selber behandeln können – für mich ist das Disease Mongering‟, sagt Kossow. „Ich befürworte daher den Weg über den Hausarzt zum Facharzt. Zuletzt gerieten sogar die Krankenkassen in den Verdacht, Disease Mongering zu betreiben. So sagte der Chef der Techniker Krankenkasse, Jens Baas, kürzlich gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die Kassen würden Ärzte mit Prämien dazu verleiten, schwerere Diagnosen zu stellen als tatsächlich vorliegen. Das Interesse der Versicherer sei hierbei, mehr Geld aus dem Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen zu erhalten. Aus einem leichten Bluthochdruck, so Baas würde dann schnell ein schwerer. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz hatte daraufhin Anzeigen gegen mehrere Krankenkassen erstattet.