Wie in jedem Beruf gibt es auch unter Ärzten unzufriedene Kollegen, die dies gerne kundtun. Und so wird die schönste Profession der Welt schon manchem Pflegepraktikanten als reichlich unattraktiv angepriesen. Wie kommt das? Was mache ich daraus? Ein Plädoyer für den Arztberuf.
Wer hat das noch nicht gehört?
Wie auch immer motiviert, aber letzten Endes physisch anwesend, sitze ich neben meiner betreuenden Ärztin in der Klinik und starre auf den Bildschirm, auf dem sich Buchstaben zu einem Arztbrief formen. Das geht nun schon eine Weile so und der sehnliche Wunsch, endlich nach Hause geschickt zu werden, nimmt immer mehr Raum in meinem Kopf ein.
Urplötzlich dann: „Du bist doch noch vor dem Physikum! Noch ist es nicht zu spät. Mach doch lieber was Schönes!“ Erstaunt schüttele ich mich kurz, um sicher zu gehen, dass ich nicht eingeschlafen bin und träume. „Ja?“, frage ich vorsichtig. „Und das wäre zum Beispiel?“ Sie denkt kurz nach und antwortet mir fröhlich: „Irgendwas mit Tieren oder Blumen.“
Wer von uns hat derartiges noch nicht zu hören bekommen? Wohlwollende Tipps, um uns vor dem Monster Medizin zu bewahren. Nun haben wir bereits viel auf uns genommen, um den Physikern und einigen anderen Naturwissenschaftlern zu trotzen, Abfragen und Klausuren zu bestehen – und dann sagt uns unsere personifizierte Zukunftsvision ganz profan: „Mach doch besser was anderes.“
Seitdem ich Anmerkungen dieser Art das erste Mal gehört habe, sind einige Jahre vergangen. Umso näher komme ich daher auch dem Zeitpunkt, an dem ich selbst einmal dieses personifizierte Ziel „Arzt sein“ darstellen werde. Und umso mehr stellt sich mir daher die Frage: Was werde ich einmal den jungen Kollegen und Kolleginnen mit auf den Weg geben? Wie verhalte ich mich jetzt als Famulant oder Blockpraktikant gegenüber all denen, die frohen Mutes in ihre Ausbildung starten und die ersten Male enttäuscht sind, weil nicht alles so läuft, wie sie es sich vorgestellt haben?
Von wem kommt das eigentlich?
Um besser zu verstehen, was die Ärztin damals dazu veranlasst hat, sich negativ über den eigenen Beruf zu äußern, möchte ich mich kurz eines Hilfsmittels bedienen, das während des Studiums dermaßen unbeliebt ist, dass es zumindest jeder kennt und versteht: Die vier Seiten einer Nachricht. Mit den besten Grüßen an Herrn von Thun.
Rein sachlich ist die Aussage klar. Mach was Schönes! Völlig überflüssig zu erwähnen, denn das tun wir aus unserer Sicht ja bereits. Abgesehen vielleicht von diesem einen Moment, in dem wir gezwungen sind, der Entstehung eines Arztbriefes beizuwohnen. Doch sagt uns der Appell eindeutig: Nicht das, was wir gerade tun, ist schön. Es muss etwas anderes sein. Offenbar hält die Senderin dieser Nachricht ihre Tätigkeit also nicht für schön, andere hingegen schon. In welchem Kontext steht nun die Beziehungsebene?
Wie kommt das und an wen richtet sich die Aussage?
Gehen wir davon aus, dass wir für die Betroffenen ein Ventil sind, so kann ich mir drei Möglichkeiten zur Entstehung ihrer Unzufriedenheit vorstellen, die kompensiert werden sollen.
Auch in den letzten beiden Fällen sieht der Kollege in uns eine Möglichkeit, seinem Ärger Luft zu machen. Kurz gesagt glaube ich eigentlich, dass meine Ärztin mich unbewusst nutzte, um eine Auseinandersetzung mit sich selbst zu führen. Offen bleibt der Grund ihrer Unzufriedenheit. Bei alledem steht außer Frage, dass die unerklärte Aussage, man solle doch besser etwas „Gescheites“ lernen, kein gutes Gefühl hinterlässt.
Was machen wir nun aus der Situation?
Jeder von uns hat vor Aufnahme des Studiums eine Reihe an Argumenten für und gegen das Studium und unseren späteren Beruf abgewogen. Dank Intensität des Lernens und der Arbeit mit Menschen tauchen zudem stets neue Anregungen, Argumente und Zweifel auf, die eingeordnet werden wollen. Beispielhaft stehen da eine hohes Sozialprestige, ein gutes Gehalt und eine sichere Arbeitsstelle gegen die größer werdende Skepsis gegenüber unserem Tun, beispielsweise durch Dr. Google oder die Erkenntnis, dass das gute Gehalt und der sichere Arbeitsplatz dennoch durch viel Zeit auf der Arbeit teuer erkauft ist.
Ein großes Dankeschön geht an dieser Stelle an die Kollegen, welche die aufbauenden, fast erlösenden Worte sprechen, die unserem Streben nach Glück und einer stabilen Identität in der neuen Welt des Arztberufes neue Kraft geben: „Ich würde immer wieder Medizin studieren. Auch wenn Freizeit und soziale Kontakte leiden.“
Wie können wir nun auf die erste Kollegin reagieren?
Es scheint mir wahrscheinlich in den meisten Fällen sinnlos, der Kollegin mit Argumenten entgegen zu treten. Ignoranz löst die Situation möglicherweise auf, aber nicht unseren intrinsischen Konflikt.
Um die Situation also für beide Parteien angenehm aufzulösen, bin ich irgendwann dazu übergegangen, Smalltalk zu führen. Eine offene Frage („Welche Berufe hast du denn da im Sinn? Käpt’n auf dem Traumschiff?“) kann uns Gedanken liefern, die uns zwar nicht gefallen, uns aber zur Auseinandersetzung mit dem Thema zwingen und uns so erlauben, die eigene Meinung zu festigen. Vor Madagaskar mit der Pest an Bord? Wenn, dann bitte als Mediziner!
Alternativ können wir auf die Idee eingehen und etwas vorschlagen, was unserem angespannten Gegenüber gute Laune macht („Genau, ich werde besser nörgelnder Patient, da kenne ich mich ja jetzt mit aus. Und dann komme ich zu d-i-r!“)? Im besten Fall können so alle Parteien gewinnen. Es bleibt das ungute Gefühl: Was, wenn sie recht behält? Was, wenn die Medizin wirklich zum persönlichen Monster wird?
Was mit Tieren oder Blumen, oder: Warum bin oder werde ich eigentlich Arzt?
„Am Anfang stand die freie Berufswahl“, pflegten insbesondere Kollegen aus dem Rettungsdienst regelmäßig zu sagen. Nun ist gerade nach einer gewissen Zeit des Studiums oder sogar Arbeitens, die Wahl bereits in eine Richtung gefallen und nur unter schweren Einschnitten in das bisherige Leben wieder zu ändern. Wie im vorherigen Absatz angesprochen, muss aber selten jemand umschulen, um sich und der Medizin zu dienen. „Was Schönes zu machen.“ Oft genügt ein Blick in eine andere (Fach-)Richtung. Meine Ärztin tat genau dies.
„Zu allen Zeiten sind der Entwicklung der Medizin hauptsächlich zwei Hindernisse in den Weg getreten: Die Autoritäten und die Systeme.“ Dieser Gedanke, den Dr. Rudolf Virchow 1856 in seinen gesammelten Abhandlungen formulierte, fordert heute wie damals viele von uns heraus, eine persönliche Antwort zu finden.
„Ein jeder soll die Konsequenzen seines Handelns tragen“, sagte Shakespeare. Und wenn „das einzig Konsequente die Inkonsequenz ist“ (Oscar Wilde), so meine ich, dass Oscar diese mit sich selbst ausmachen und nicht nach außen – an mich, der ich nichts für ihn daran ändern kann, selbst wenn ich wollte – herantragen sollte.
Weiterführend könnte Cicero anführen: „Irren ist menschlich, aber auf Irrtümern zu bestehen ist unklug.“ Konkret bedeutet dies für mich in diesem Fall: Wenn ich irgendwann wie die Kollegin empfinde, dann hoffe ich doch schnellstmöglich aktiv zu werden, um mich selbst wieder in die sicheren Wasser der Zufriedenheit zu bugsieren.
Was ich aus der Situation mitnehme ist der Wunsch, im Jetzt meinen Kommilitonen und später meinen Kollegen ehrlich sagen zu können: „Für mich ist Medizin ein schönes und spannendes Arbeitsfeld.“
Wie immer im Leben gibt es nicht nur positive Aspekte und jeder muss sorgfältig für sich entscheiden, ob er diese in Kauf nehmen möchte. Glücklicherweise hält die Medizin viele Spielwiesen für die verschiedensten Charaktere bereit und wenn eine nicht die Richtige zu sein scheint, spricht dies am ehesten dafür, mal die Wiese nebenan zu testen.
Warum bin oder werde ich eigentlich trotzdem Arzt?
Hin und wieder setzt sich in meinem Gehirn diese Frage nach dem Warum mit einem resignierenden Unterton fest oder macht sich gar auf den Weg in Richtung Zunge. Ich muss dann an die Kollegin mit ihren Tieren und Blumen und an Virchow denken. Ich weiß nicht, was ihn damals angetrieben hat, aber in den letzten nunmehr fast zehn Jahren, die ich im Gesundheitswesen arbeite, habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, für diese Fälle schnellstens mindestens drei gute Gründe zu finden, warum genau das, was ich gerade tue, die großartigste Tätigkeit der Welt für mich ist. Das ist meine Art, für mich sicherzustellen, dass ich konsequent bleibe.
Hier sind drei meiner Gründe:
Was sind eure?
Anmerkungen: Die Überlegungen entstanden aus realen Situationen, sind letztendlich aber keiner bestimmten Person zuzuordnen. Sollte sich dennoch jemand persönlich angesprochen fühlen, so danke ich ihr/ihm für ihre/seine Hilfe es mir zu ermöglichen, Kolleginnen und Kollegen eine Auseinandersetzung mit ihrem Tätigkeitsfeld zu erlauben. Ist im Text nur ein Geschlecht genannt, so bitte ich aus Gründen der Leserlichkeit, im Geiste das jeweils andere zu ergänzen.