Patienten sind kritischer geworden und eher geneigt, ihren Arzt zu verklagen. Wie die Statistik belegt, steigt die Anzahl vermuteter Behandlungsfehler. In der Orthopädie und der Unfallchirurgie sind die Zahlen mit bestätigten Fehlern am höchsten.
Ärzten fällt auf: Patienten werden immer kritischer und sind eher bereit, angenommene Behandlungsfehler auch klageweise geltend zu machen. Stimmt der subjektive Eindruck der Kollegen? Nimmt die Zahl der Klagen zu? Eine Statistik zur Entwicklung von Arzthaftungsklagen ist nicht öffentlich verfügbar. Abzulesen ist aber ein Anstieg von begutachteten vermuteten Behandlungsfehlern aus den seit 2010 veröffentlichten Statistiken des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS und MDK) unter dem Titel „Behandlungsfehler-Begutachtung der MDK-Gemeinschaft“ und den seit 2006 veröffentlichten Statistiken der Bundesärztekammer (BÄK) zur Tätigkeit der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen. Diese beiden Statistiken erscheinen jährlich, weitere systematische Erfassungen erfolgter Begutachtungen existieren nicht.
Um die Entwicklung kurz zu skizzieren, müssen wir zurück in die 1970er Jahre. Damals entstanden die ersten Patientenschutzverbände. Auf deren zunehmende Aktivität hin wurden 1975 an den Ärztekammern der Länder die bereits erwähnten Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen eingerichtet. Diese Gremien haben die Aufgabe, bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Arzt und Patient weisungsunabhängig und objektiv zu klären, ob die gesundheitliche Komplikation auf einer haftungsbegründenden ärztlichen Behandlung beruht. Ziel dieser Einrichtungen ist die außergerichtliche Einigung zwischen Arzt und Patient. Seit 1988 haben gesetzlich Versicherte zudem den Anspruch, von ihrer Krankenkasse bei der Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen infolge eines Behandlungsfehlers unterstützt zu werden. 2001 wurde dieses Recht auch auf die Pflegeversicherung ausgeweitet. Die hierdurch angeregte gesellschaftspolitische Diskussion um Patientenrechte führte dazu, dass in 2000 – zunächst modellhaft – Beratungsangebote für Patienten installiert wurden und 2013 das Patientenrechtegesetz in Kraft trat.
40.000 vermutete Behandlungsfehler pro Jahr – diese Zahl liest man immer wieder. Auch die BÄK ging zumindest 2009 von dieser ungefähren Größenordnung aus. Das folgt aus der für 2009 (11.000 Fälle) vorgelegten Statistik, in der die BÄK vermutet, dass die Ärztekammern etwa ein Viertel aller Fälle bundesweit abdecken. In 2015 gingen bei den Ärztekammern rund 11.800 Anträge auf Begutachtungen ein. Die MDKen, die im Übrigen nur Fälle annehmen, die zuvor nicht den Ärztekammer-Gremien vorgelegt wurden, begutachteten im letzten Jahr gut 14.800 Fälle. Weitere Begutachtungen laufen über private Gutachter. Während der MDS damit gegenüber dem Vorjahr eine leichte Zunahme aller Begutachtungen von 1,1 % verzeichnete, waren die Fälle bei den Ärztekammern rückläufig (knapp 2 % weniger). Die Entwicklung seit 2009 zeigt die nachfolgende Tabelle.
Die Zahl der MDK-Begutachtungen stieg in den Jahren 2010 und 2013 sprunghaft um jeweils etwa 2.000 Fälle; der Anstieg in 2013 ist gewiss auch eine Folge des in diesem Jahr in Kraft getretenen Patientenrechtegesetzes. Insgesamt ist die Anzahl der Begutachtungen bei den MDKen von 2009 bis 2015 kontinuierlich um über 40 % gestiegen. Die Ärztekammer-Gutachter bekamen auch mehr Anfragen, allerdings stieg die Zahl hier nur bis 2012 um gut 11 %, sinkt seither aber wieder, sodass im Verlauf bis 2015 ein Anstieg von lediglich 8 % verbleibt.
Erfreulich ist, dass beide Gutachterinstitutionen im Verlauf der Jahre trotz der zunehmenden Anzahl an Begutachtungen recht stabile Zahlen bezüglich der bestätigten Fehler vermelden. Will man eine Entwicklung ablesen, dann eher eine sinkende Tendenz gesicherter Fehler als eine steigende. Bei den MDKen nahm der relative Anteil festgestellter Fehler ab von 32 % in 2011 auf 27 % in 2015. Auch absolut wurden in 2015 mit 4.046 Fehlern etwas weniger Fehler bestätigt als mit 4.068 in 2011. Dennoch wird bezüglich der MDK-Begutachtungen mitunter über ansteigende Fehlerzahlen berichtet, weil von 2013 bis 2015 eine leicht ansteigende Tendenz zu beobachten ist. Bei den Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen sank seit 2010 der relative Anteil bestätigter Fehler von 17 auf 15 % und auch die absoluten Zahlen gingen zurück – von 1.901 auf 1.774.
Bevor hier insbesondere auf die gute Dokumentation der MDK-Begutachtungen eingegangen wird, muss an dieser Stelle eine Warnung vor Überinterpretationen weiter gegeben werden: Jahresstatistik 2015 - Behandlungsfehler-Begutachtung der MDK-Gemeinschaft, Einleitung, S. 6: „Diese Ergebnisse stellen den umfangreichsten Datensatz zu Behandlungsfehlern dar, der in Deutschland aus einem aktuellen Einjahreszeitraum veröffentlicht wird. Die Ergebnisse aus der Behandlungsfehler-Begutachtung der MDK-Gemeinschaft können dennoch weder für die in Deutschland insgesamt erhobenen Behandlungsfehlervorwürfe noch für alle tatsächlich auftretenden Fehler bzw. „vermeidbaren unerwünschten Ereignisse“ in der Medizin repräsentativ sein. Jegliche Interpretationen sind vor dieser Einschränkung zu sehen und mit entsprechender Vorsicht vorzunehmen.“ MDKen und Ärztkammern melden eine Verteilung von konstant etwa zwei Dritteln stationär und ein Drittel ambulant verursachter Fehler. Sowohl hinsichtlich der vermuteten als auch der bestätigten Fehler führen die operativen Fächer die Statistik an. Ambulant (inkl. Belegarzttätigkeiten) wie stationär steht die Orthopädie und Unfallchirurgie mit etwa 30 % bestätigter Fehler an erster Stelle beider Statistiken, hier sind es insbesondere Fehler bei Behandlungen aufgrund von Knie- und Hüftgelenksarthosen. Es folgt in der MDS-Statistik die Allgemein- und Viszeralchirurgie mit einem Fehleranteil von etwa 11 %.
Jeweils 11 % der Fehlerfälle werden in beiden Statistiken auch der Inneren- und Allgemeinmedizin zugeordnet. Auf die Frauenheilkunde entfallen jeweils 6–7 % der Fälle. Zudem rangiert laut MDS die Zahnmedizin immer mit an vorderer Stelle. Sowohl bei Operationen als auch bei interventionellen Therapien werden zwar zehnmal mehr Gutachten wegen vermuteter Fehler bei der technischen Durchführung durchgeführt als wegen Mängeln bei der Lagerung oder Nachsorge. Fehler bei der technischen Durchführung wurden 2015 aber nur in 17 % der Fälle bestätigt, Fehler bei der Lagerung und Nachsorge der Patienten hingegen in rund 40 % der Fälle. Hervorgehoben werden sollen auch die Anzahl an Fehlern im Rahmen der Befunderhebung, und hier vorrangig im Zusammenhang mit bildgebenden Verfahren. Diese führen in der Statistik sowohl bezüglich der Anzahl erfolgter Begutachtungen (> 800) als auch bezüglich der Quote – fast jeder zweite Fehler wurde bestätigt. Sehr viele Fehler beruhen aber auch auf einer fehlerhaften körperlichen Untersuchung oder einer Fehldiagnose, die trotz eindeutigen Befundes gestellt wurde. Zwei fachübergreifende Bereiche fallen bezüglich der Quote „bestätigte/vermutete Fehler“ in der MDS-Statistik negativ auf: Danach wurden 50 % bei der Aufklärung und 40 % in der Pflege bestätigt. Das Dokumentationsfehler in 80 % der Fälle bestätigt wurden liegt vermutlich daran, dass in diesem Fall der Arzt beweisen muss, dass die Dokumentation nicht wahr ist.
Manch ein Arzt fragt sich, ob er sich gegen das durch die erhöhte Klagebereitschaft gestiegene Arzthaftungsrisikio absichern kann. Die Antwort lautet: Er kann nicht nur, er muss! Vor dem Patientenrechtegesetz gab es für Ärzte keinen Zwang zum Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung. Das ist seit dem Patientenrechtegesetz anders. Nunmehr besteht diese Pflicht. Die neu in die Bundesärzteordnung aufgenommene Regelung des § 6 Abs. 1 Ziffer 5 soll sicherstellen, dass Ärzte eine ausreichende Berufshaftpflichtversicherung abschließen. Ist dies nicht der Fall, kann das Ruhen der Approbation angeordnet werden. Ergänzend haben inzwischen viele Länder ihre Heilberufskammergesetze geändert. Bayern reagierte noch in 2013 als erstes und verpflichtet Kammerangehörige eine Berufshaftpflichtversicherung mit ausreichender Deckung abzuschließen und während ihrer Berufstätigkeit aufrechtzuerhalten sowie auf Verlangen gegenüber der Landesärztekammer nachzuweisen. Wie hoch die Deckung der Versicherung sein muss, damit sie „hinreichend“ ist, variiert je nach Risiko des Fachbereichs. Wie oben dargelegt, betreffen die meisten bestätigten Fehler operative Fächer. Hier empfehlen sich heute Mindestdeckungssummen für Personenschäden in Höhe von 3 bis 5 Millionen Euro. Für Vermögensschäden wird eine Summe von mindestens 100.000 Euro nahegelegt (Ratzel, Lippert in Kommentar zur Musterberufsordnung, 6. Ausgabe, § 21, Rn 2).
Angestellte Krankenhausärzte sind in der Regel umfassend über ihren Träger gegen Haftpflichtansprüche versichert und müssen nur für gelegentliche außerdienstliche Dienste Vorsorge treffen. Ausnahmen gibt es bezüglich der Versicherung von Nebentätigkeiten und solchen, für die leitende Ärzten ein Liquidationsrecht eingeräumt ist, dem Chefarzt also das Recht zusteht, seine Leistungen unmittelbar gegenüber dem Patienten abzurechnen. Meistenteils sind sowohl die leitende Ärzte sowie das nachgeordnete Personal auch hierfür über den Träger mitversichert. Versichert der Träger indes nur den konkreten Dienstbereich, muss der leitende Arzt für weitergehende Tätigkeiten – also für solche mit Liquidationsrecht – entsprechende Versicherungen abschließen. In der Regel verpflichtet der Träger die leitenden Ärzte dann überdies dazu, im Liquidationsbereich mit eingesetzte Ärzte in die Haftpflichtversicherung mit einzubeziehen (Ratzel, Lippert aaO, Rn 17). Angestellte Ärzte, die in die privatärztliche Tätigkeit des Chefs eingebunden sind, sollten sich gegebenenfalls informieren, ob sie hier ausreichend versichert sind.