„Ein neues Grenzgebiet in der Behandlung psychischer Störungen und anderer chronischer Erkrankungen kommt nicht von der pharmazeutischen Industrie, sondern von innen, da Achtsamkeitstechniken Zugkraft gewinnen.“ So beginnt eine Übersicht in der Ausgabe vom 6. Oktober 2015 des Journal of the American Medical Association (JAMA), verfasst von Laura Buchholz, beim JAMA angestellte Autorin.
Tatsächlich hat die „Achtsamkeit“ (englisch: „Mindfulness“) in den letzten Jahren eine enorme Aufmerksamkeit auch als therapeutische Technik in der Psychiatrie gewonnen, ganz besonders zuletzt, als eine Studie im renommierten Lancet gezeigt hat, dass die sogenannte „Mindfulness-Based Cognitive Therapy“ (MBCT; achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie) bei Patienten mit rezidivierender depressiver Störung möglicherweise genauso effektiv das Rückfallrisiko reduziert wie eine antidepressive Pharmakotherapie (Kuyken et al.; Lancet 2015; 386: 63-73).
Die Achtsamkeit hat ihren Ursprung in alten buddhistischen Meditationstechniken. Kern aller Achtsamkeitstechniken ist das absichtsvolle, nicht wertende Richten der Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment mit Offenheit, Neugier und der Bereitschaft, das Gegenwärtige so anzunehmen, wie es ist. Wesentliche Bedeutung bei der Einführung von Achtsamkeitstechniken in das westlichen Gesundheitssystem wird dem amerikanischen Kardiologen Herbert Benson beigemessen, der das Mind/Body Medical Institute am Massachusetts General Hospital in Boston gründete. In der Folge wurden daraus verschiedene therapeutische Systeme entwickelt, zu denen die achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (Mindfulness-Based Stress Reduction, MBSR) nach Jon Kabat-Zinn und die MBCT, aber auch die transzendentale Meditation, Yoga, Tai Chi und andere Techniken gehören.
Die westliche Medizin hat die Achtsamkeit als therapeutische und präventive Technik bisher weitgehend ignoriert. Allerdings ändert sich dies in den letzten Jahren, nachdem sich nun Hinweise für eine Wirksamkeit bei den verschiedensten somatischen und psychiatrischen Erkrankungen mehren. Beispiele sind die o. g. Studie zur Rückfallprophylaxe bei rezidivierender Depression. Oder auch eine – allerdings deutlich kleinere – Studie bei älteren Menschen mit chronischen Schlafstörungen. Hier war eine achtsamkeitsbasierte Therapie einer Intervention zur Verbesserung der Schlafhygiene signifikant überlegen (Black et al.; JAMA Intern Med 2015; 175: 494-501). Dass die Achtsamkeit als medizinische Technik mehr Aufmerksamkeit in der westlichen (Schul-)Medizin bekommt, liegt sicherlich auch daran, dass man sich in den letzten Jahren um ein naturwissenschaftliches Verständnis ihrer Wirkmechanismen bemüht. Selbst in den angesehensten Fachzeitschriften finden sich aktuelle Übersichten, z. B. zur „Neurowissenschaft der Achtsamkeits-Meditation“ (Tang et al.; Nat Rev Neurosci 2015; 16: 213-225).
Laura Buchholz betont in ihrer Übersicht allerdings auch, dass die Achtsamkeit weiter gut evaluiert werden muss, da viele der vorliegenden Studien zu klein seien und methodische Schwächen aufwiesen. So lasse sich eine Achtsamkeitstechnik nicht so einfach in einer randomisierten, doppelblinden Studie untersuchen wie ein Pharmakon. Schon eine Verblindung ist nicht möglich, und eine Randomisierung sei problematisch, weil eine Achtsamkeitstechnik eine hohe Motivation und viel Zeit voraussetze, diese zu erlernen. Von Achtsamkeit profitierten vor allem Menschen, die die Bereitschaft mitbrächten, sich darauf einzulassen. Es wird methodisch außerordentlich schwierig sein, dies in einer randomisierten Studie abzubilden.
Buchholz schließt ihre interessante und inspirierende Übersicht so: „Ob Ärzte ihren Patienten Achtsamkeitstechniken empfehlen, hängt nicht nur von deren Verfügbarkeit ab, sondern auch von ihrer Bereitschaft, diese Ansätze in das evidenzbasierte klinische Armamentarium aufzunehmen.“