Maserninfektionen heilen nicht immer ganz aus. Die tödlich verlaufende Spätkomplikation subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) tritt öfter auf als bisher vermutet. Erst letzte Woche starb eine Sechsjährige an den Folgen. Kinderärzte in Deutschland fordern die Impfpflicht.
Masernviren sind hochansteckend. Infizierte leiden unter Fieber, dem charakteristischen roten Ausschlag, laufender Nase, Husten, roten Augen und Halsschmerzen. In den meisten Fällen verbreitet sich das Masernvirus nur im Körper und wird innerhalb von etwa 14 Tagen vom Immunsystem bekämpft. In seltenen Fällen erreicht das Virus auch das Gehirn und fällt dort in eine Art Schlafzustand. Erst nach Jahren können im Zuge der subakuten sklerosierenden Panenzephalitis (SSPE) schwere Entzündungen im Gehirn auftreten, die die Myelinscheiden um die Nervenfasern zerstören und in 95 % der Fälle tödlich enden. Wie die SSPE entsteht, ist noch nicht gänzlich verstanden. Es gibt Hinweise darauf, dass Mutationen in den Virusgenen dabei eine Rolle spielen, die für Proteine der Virushülle codieren – insbesondere für das M-Protein. SSPE kann erst Jahre nach der Maserninfektion auftreten SSPE tritt Monate bis Jahre nach einer Maserninfektion auf und schreitet meist langsam über ein bis drei Jahre fort. Im ersten Erkrankungsstadium treten charakteristischerweise psychische Störungen und Demenz auf, gefolgt von Muskelkrämpfen und epileptischen Anfällen im zweiten Stadium. Im dritten Stadium wird das Großhirn im Zuge des Dezerebrationssyndroms stark geschädigt. MRT eines Patienten mit subakuter sklerosierender Panenzephalitis im zeitlichen Verlauf, jeweils in T1- (links) und T2-Gewichtung (rechts). A+B: Situation bei Erstvorstellung, die Pfeile deuten hyperintense entzündliche Läsionen im Gehirn an. C+D: Situation 3 Monate später. Im zeitlichen Verlauf sind die Markerläsionen weniger prominent, jedoch wird eine kortikale Atrophie deutlich. © Wikimedia Auf der „Infectious Disease Week 2016 (IDWeek 2016TM) in New Orleans stellten Wissenschaftler nun aktuelle Daten zum Vorkommen von SSPE vor. Sie beschränkten sich bei ihrer Datenerhebung auf den US-Staat Kalifornien. Dort stießen sie auf 17 dokumentierte SSPE-Fälle in den Jahren zwischen 1998 und 2016. Alle Betroffenen hatten eine Maserninfektion im Kindesalter durchgemacht, bevor sie geimpft wurden. SSPE trat in dieser Gruppe im Alter von 3 bis 35 Jahren auf. Das durchschnittliche Erkrankungsalter lag bei 12 Jahren. Je jünger, desto höher Wahrscheinlichkeit für SSPE Wer sich in seinen ersten Lebensmonaten mit dem Masernvirus infiziert, hat offenbar das höchste SSPE-Erkrankungsrisiko. Eine Subanalyse kalifornischer Kinder zeigte: Eines von 1.387 Kindern, die vor Vollendung des fünften Lebensjahrs an Masern erkrankten, erlitt später eine SSPE. Bei den Kindern, die sich mit dem Masernvirus innerhalb der ersten 12 Lebensmonate ansteckten, lag die SSPE-Quote sogar bei einem von 609 Kindern. Bei vielen dieser Kinder fielen zunächst kognitive oder motorische Besonderheiten auf, bevor die Diagnose SSPE gestellt wurde. Für Deutschland gelten ähnlich erschreckende Zahlen: „Lange ging man von einem Risiko von 1:100.000 für die Post-Masern-Komplikation aus. Aktueller Forschung zufolge kommt die tödliche Erkrankung aber weit häufiger vor, nämlich bei einem von 1.700 Kindern in Deutschland, die vor dem 5. Lebensjahr an Masern erkrankt waren“, schreiben die Wissenschaftler um Studienleiter James D. Cherry von der University of California in Los Angeles über die Situation hierzulande. Nur bei Impfquote von mind. 95 % sind die Kleinsten geschützt SSPE kann derzeit nicht therapiert werden. Die einzige Möglichkeit, die Krankheit zu verhindern, besteht in einer Immunisierung von mehr als 95 % der Bevölkerung, um bei dieser hochansteckenden Erkrankung eine Herdenimmunität zu erreichen. Erst dann kann sich das Virus in der Bevölkerung nicht mehr ausbreiten und unter Einjährige bzw. Menschen gefährden, die aufgrund eines defekten Immunsystems nicht geimpft werden können. Die Grundimmunisierung in Form der Mumps-Masern-Röteln Impfung wird von der STIKO ab dem 12. Lebensmonat empfohlen. Vorher sind Säuglinge nur geschützt, wenn sie gestillt werden und die Mutter Antikörper gegen das Virus hat. Eine zweite Impfung sollte zwischen dem 15. und dem 23. Lebensmonat stattfinden. Nach Angaben des US-amerikanischen Zentrums für Krankheitskontrolle und Prävention (CDC) gelten die USA als praktisch masernfrei. Dort sind 92 % der Kinder zwischen 19 und 35 Monaten gegen Masern geimpft. Deutschland: von Herdenimmunität weit entfernt In Deutschland sieht es weit schlechter aus. Nur 63 % aller Kleinkinder sind hierzulande vor Vollendung des zweiten Lebensjahres komplett gegen Masern geimpft. Knapp 2.500 gemeldete Masernfälle im Jahr 2015 zeigen, dass der Impfschutz löchrig ist. „Diese Impflücken bei Kleinkindern können in Kindertagesstätten und -horten fatale Folgen haben, wenn die Infektion eingeschleppt wird“, sagt Dr. Jörg Bätzing-Feigenbaum, Leiter des Versorgungsatlas. „Anfang 2015 verstarb erstmals seit vielen Jahren in Deutschland wieder ein nicht geimpftes Kleinkind an Masern.“ Risiko-Region Deutschland Die Impf-Spitzenreiter liegen in Niedersachsen: In Peine und in Wolfsburg sind 78 % der Kleinkinder bis zu ihrem zweiten Geburtstag vollständig – zweimal – gegen Masern geimpft. Schlusslicht bildet der Süden Deutschlands: die Landkreise Garmisch-Partenkirchen, Bad Tölz und Rosenheim in Bayern. Dort erhalten nur 36 bis 42 % der Kinder die erforderlichen zwei Impfungen. Baden-Württemberg schneidet ähnlich schlecht ab. Kinderärzte fordern Impfpflicht Deutsche Kinderärzte fordern nun eine Impfpflicht. Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, sagte auf einer Pressekonferenz am 22. November 2016 in Köln: „Die verpflichtende Impfberatung, die inzwischen Gesetz ist, reicht leider nicht aus, um die Masern auszurotten und Kinder zu schützen. 73.000 nicht-geimpfte Kinder sind der Beweis: Deutschland hat ein gewaltiges Masernproblem. Wir brauchen daher eine Impfpflicht, um in Deutschland endlich die Masern und auch die Röteln zu eliminieren." Währenddessen raten die kalifornischen Wissenschaftler allen US-Amerikanern mit ungeimpften Kindern von einer Reise nach Deutschland und anderen Regionen Europas ab: „It’s just not worth the risk.“ Originalpublikationen: Subacute sclerosing panencephalitis, a measles complication, in an internationally adopted child D. J. Bonthius et al.; Emerg Infect Dis., doi: 10.3201/eid0604.000409, 2000. Rebecca Taylor, Always Deadly Measles Complication More Common Than Believed Herd Immunity by Vaccination Protects Infants Too Young to be Immunized, 28. 10. 2016 Pressemitteilung Versorgungsatlas, Masernimpfung: Kleinkinder nicht überall in Deutschland gut geschützt, 27. 10. 2016