In der Praxis gibt es, wie in anderen Berufen auch, jene Tage und solche Tage. Es gibt Tage, an denen die Patienten alle nett sind, die Arbeit leicht von der Hand geht, die Krankheiten alle gut heilbar sind und die Sonne scheint. Und dann gibt es noch die anderen Tage.
Tage, an denen Schicksal auf Schicksal durch meine Tür kommt. Tage, an denen ich mehr Taschentücher ausgebe als Rezepte. Tage, an denen ich viel öfter sagen muss, „Ich weiss es auch nicht“ und „Tut mir leid“, als mir lieb wäre. Tage, an denen ich mich zusammenreißen muss, die überwältigende Macht der Verzweiflung nicht auch in mir zuzulassen.
Das sind dann die Tage, wo ich auch etwas davon mit nach Hause nehme. Letzte Woche war wieder einer dieser Tage. Zunächst eine Patientin, eine liebe ältere Dame, die ich auch noch privat kenne. Sie kam völlig aufgelöst und von Weinkrämpfen geschüttelt in meine Praxis. Ihr Lieblingsenkelsohn, Mitte 30, hatte sich am Tag zuvor suizidiert, für die Familie völlig überraschend und während seine Frau mit den zwei kleinen Kindern kurz einkaufen war.
Meine Patientin war einfach völlig fassungslos und redete und weinte und redete und schrie vor Verzweiflung. Und ich konnte nichts weiter tun, als ihr zuzuhören und ihr etwas zur Beruhigung zu geben. Nach ihr kam kurze Zeit später ein älterer Mann zu mir, der vor kurzem seine Frau, mit der er 65 Jahre verheiratet war, an den Krebs verloren hatte. Nun sitzt er alleine in einem großen Haus, keine Kinder, keine Angehörige, und weiß nicht, wie es weitergehen soll. Am liebsten wäre er mit seiner Frau gestorben.
Danach kam ein junger Mann, der gerade wegen einer chronischen Krankheit seine Ausbildung verloren hatte, in die er viel Herzblut, Zeit und auch Geld gesteckt hatte. Zuletzt kam ein Ehepaar im besten Alter, das gerade von ihrem Gastroenterologen erfahren hatte, dass die Frau Darmkrebs hat. Bereits metastasiert. Beide waren noch völlig fassungslos von der Diagnose.
Das sind die Tage, an denen ich für meinen Geschmack viel zu oft nur sagen kann, „Es tut mir leid“ und „Ich weiß, es ist schwer“. Das sind auch die Tage, an denen ich etwas von diesen Schicksalen mit nach Hause nehme. Auch wenn ich mich 98 von 100 Tagen gut von meinen Patienten abgrenzen und die Probleme und Schicksale in der Praxis lassen kann, gibt es doch immer mal wieder diese Tage, an denen das Elend, der Schmerz zu groß sind, als das ich das alles an der Praxistür abschütteln kann.
Vor allem nicht, wenn es im eigenen Leben auch so das eine oder andere Problem gibt. Früher habe ich versucht, Dankbarkeit dafür zu entwickeln, für all die Probleme, die mich nicht direkt betreffen. Mittlerweile weiß ich, dass das Beste für solche Tage ist, mit jemanden darüber zu reden, und dann suche ich mir gezielt Freunde, denen es gerade sehr gut geht, die vielleicht gerade Eltern geworden sind oder anderweitig Grund zur Freude haben und rufe diese an und frage, wie es geht.
Ich kann dann ihre Freude teilen, wie ich vorher kurzzeitig das Leid meiner Patienten geteilt habe. Das hilft mir, zu erkennen, dass es auf dieser Welt nicht nur Elend und Leid gibt. Man leidet ja als Arzt sonst schnell an einer verzerrten Wahrnehmung, wenn man den ganzen Tag damit umgeben ist. Zum Glück sind die meisten Tage ausgewogen und machen mich nicht so betroffen. Für die anderen Tage habe ich neben besagten Freunden und Kollegen auch immer eine Tafel Schokolade im Schrank...