Das ärztliche Miteinander ist, bei einer so gemischten Mannschaft wie hier, eine Herausforderung. Jeder hat so seine persönlichen Anliegen. Die Morgenbesprechung spiegelt dies auf bunte Art und Weise wieder.
Ein neuer, schöner Morgen mit rosenfarbenem Sonnenaufgang begrüßt das karge Land. Die ärztliche Runde in der Bibliothek beginnt, wie üblich, in meist kaum hörbarem Tonfall mit Bericht des Nachtdienstes. Warum nur sprechen die einheimischen Kollegen so leise? Damit man besser zuhört? Höflichkeit? Mangelndes Selbstbewusstsein? Das könnte gut sein, denn die Selbstbewusstesten in der Runde sprechen laut und unüberhörbar.
Auch die Platzverteilung ist typisch: Zwei Sessel gibt es, etwas erhöht mit Polster, und viele harte Holzstühle. Üblicherweise sind die Sessel für die Chefs reserviert: den Med. sup. und seinen Vertreter. Aber auch der eine oder andere der Kollegen sitzt gerne dort. Der Verwaltungsleiter – eigentlich ja auch eine Art Chef – sitzt grundsätzlich nicht dort, weil er die „Erhöhung“ nicht schätzt. Ich selbst habe mal in einer stillen Stunde allein im Raum, beim Lesen des „tropical doctor“, das Sitzgefühl getestet und fand die Sessel ziemlich unbequem, da die Polster sehr dünn sind und man die Holzlatten darunter spürt. Der Nachtdienstbericht geht vermutlich in großen Teilen ungehört zuende.
Dann ist der Ring frei zur flexiblen Gestaltung, ein Viertelstündchen ist dafür reserviert. Ob noch jemand etwas zu berichten habe? Der Frauenarzt aus dem Nachbarland erzählt mit lauter Stimme und der unerschütterlichen Überzeugung, dass alle an seinen Gyn-Berichten interessiert sind, üblicherweise etwas von seiner Station und unterbricht dafür kurz sein übliches Handygetippe. Seine Rasierwasserduftwolke hat bereits seit längerem den Raum erfüllt.
Dann sieht der ältere Kollege aus Europa seine Chance gekommen. Schon seit Beginn der Runde hat er gewichtig ein knisterndes Tütchen von einer Hand in die andere genommen. Jetzt ist es soweit: Er habe ein neues Gerät bestellt, aus Tuttlingen (er schaut dabei die deutsche Ärztin vielsagend an), es sei sehr teuer gewesen, er wolle hier nicht den Preis verraten. Das sei als gutes Beispiel gedacht. Ein Spreizer für Prostataoperationen.
„Ach“, denke ich, „wir überweisen seit Monaten alle Prostatapatienten in die Hauptstadt, weil der einheimische Kollege diese nicht operiert.“ Vermutlich möchte der ältere Kollege jetzt mit der Ausbildung in dieser OP-Technik starten. Dazu verlautet aber vorerst noch nichts.
Nächstes Topic: die Gewaltopfer. Der Nachtdienst hat ein Ehepaar aufgenommen. Die Gattin hat dem Gemahl das halbe Ohr abgebissen. Erste Reaktion der Herren: Ja, Frauen können so gewalttätig sein, man solle doch allgemein die Beträge für die Polizeiberichte erhöhen. Der einheimische Med. sup. im Amt plädiert nachdrücklich dafür, Frauen und Kinder von den Gebühren zu befreien, da die Gewalt meist von den Männern ausgehe. Man widerspricht ihm vehement, scheinbar gibt es reichlich Erfahrungen mit renitenten Frauen, ein Kollege weigert sich gar, in Zukunft die Berichte auszufüllen (drei Minuten Arbeit und im Vergleich zu einem deutschen Polizeibericht ein Klacks). Zum Glück lässt sich der einheimische Chef nicht irre machen und besteht auf seinem, im Sinne der Mission (und Menschenwürde) gewählten Modell.
Doch auch später noch ist männliche Empörung zu hören: „Was für böse Frauen es doch gibt“. Ich gebe zu bedenken, dass man doch erstmal den Grund für den Biss herausfinden sollte. Es gibt viele, durchaus gängige afrikanisch-männliche Verhaltensweisen, die einen Biss ins Ohr zwar nicht rechtfertigen, aber verständlich machen: Seitensprünge (im Zeitalter von Aids besonders übel), Ansteckung mit was auch immer, Geld vertrinken, Arbeit schleifen lassen und so weiter und so fort. Der afrikanische Mann hat da einiges an Potential. Aber was die weiße Frau sagt, muss man nicht bedenken. Sie hat – mit den paar Monaten Erfahrung im Land – ja gar keine Ahnung!
Das Gespräch zieht sich. Von den anderen Kollegen sagt, wie gewohnt, keiner etwas. Auch üble Geschichten und vermeidbare Todesfälle werden unbewegt mit Schweigen kommentiert. Zum Schluss wünscht der einheimische Med. sup. mit einem tiefen Seufzen einen guten Tag. Er hat es nicht leicht.