Sexuelle Lebenswelten sind noch immer mit Grenzen und Vorurteilen behaftet – auch im Bereich der Psychotherapie. Heute spricht man vom „Zeitalter der Neosexualität“: Sexuelle Lebenswelten, die auch an Urologen neue Ansprüche stellen.
Während wir heutzutage eine gewisse sexuelle Geschwätzigkeit in der Öffentlichkeit an den Tag legen, herrscht doch gerade in vielen Liebesbeziehungen Sprachlosigkeit über dieses Thema. In der Folge leben Paare ihre Sexualität oft lediglich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner aus. Sexualität wird noch immer tabuisiert und selbst in der Psychotherapie oder im Arzt-Patienten-Gespräch ist sie bestenfalls ein Randthema. Viel zu (vor)schnell wird kategorisiert und eingeordnet. Eine wirklich erfolgreiche Sexualtherapie sollte hingegen vom Behandler als „dem neugierigen Anfänger“ ausgehen.
Das gern praktizierte Schubkastendenken gilt seit Längerem als überholt, lassen sich damit doch kaum all die verschiedenen sexuellen Lebenswelten in unserer Gesellschaft erfassen. Heterosexualität ist lediglich eine Form, die Übergänge zur Homosexualität sind fließend. Selbst die Grenzen zwischen Mann und Frau sind heute vielfach aufgeweicht oder gänzlich verschoben. „Anstatt in Mann und Frau einzuteilen, ist es vielfach besser, von Menschen zu sprechen, die größtenteils männlich oder aber überwiegend weiblich sind“, merkte Johannes Wahala, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Sexualforschung, an. Besonders Jugendliche definieren sich nicht unbedingt nach klassischen Lebensweisen, was sich ebenso in ihrem Umgang mit Sexualität ausdrücken kann. Dies ist ein wichtiger Aspekt, dem sich zukünftig wohl auch mehr und mehr Urologen im Rahmen der Jungensprechstunde gegenüber sehen werden.
„Das altbekannte Bild, dass Sexualität nur zuhause stattfindet, sollten Sie ebenfalls ganz schnell vergessen“, riet Wahala Ärzten und Therapeuten gleichermaßen. Sex 2.0 beschreibt z.B. sexuelle Erfahrungen und Handlungen in Chatrooms. Umfragen zufolge nehmen solche medialen Angebote eine immer größere Bedeutung im Leben junger Menschen ein. Auch Darkrooms, Sexpartys und Cruising (inklusive Sex an öffentlichen Orten) gehören zur Lebenswelt im Zeitalter der Neosexualität.
Darüber hinaus ist die Zunahme sexuellen Risikoverhaltens nicht selten ein verdeckter Kampf gegen die eigene Drogenabhängigkeit, Sucht nach Nähe oder auch ein probates Mittel, um Depressionen abzuwehren. Berater und Ärzte müssen diese Lebenswelten nicht für sich annehmen, aber sollten ihrem Gegenüber dennoch möglichst offen und als „der neugierige Anfänger“ zuhören. Denn Vorurteile und voreilige Schlüsse können eine empfundene Stigmatisierung verstärken, Depressionen auslösen und die psychosozialen Belastungen zusätzlich steigern.
Quelle: DER PRIVATARZT Urologie 1/2015