So viele Fälle sexuell übertragbarer Erkrankungen gab es noch nie in den USA. Etwa 1,5 Millionen Chlamydieninfektionen, 400.000 Gonorrhö- und 24.000 Syphilis-Fälle wurden 2015 diagnostiziert. Auch in Deutschland steigen die Zahlen. Gibt es einen Zusammenhang mit Dating-Apps?
Als Gesprächspartner stand DocCheck Dr. Harald Kempf zur Verfügung. Als Facharzt für Allgemeinmedizin ist er die erste Anlaufstelle für Patienten mit sexuell übertragbare Krankheiten (STD, Sexually Transmitted Disease) und fungiert dadurch als eine Art „Vorfilter“ für Fachärzte wie Hepatologen oder Ärzte für Haut- und Geschlechtskrankheiten. Seine Praxis ist akademische Lehrpraxis der LMU. STD sind Erkrankungen, die durch vaginalen, analen oder oralen Geschlechtsverkehr von Mensch zu Mensch übertragen werden. Verursacht werden sie durch Bakterien, Viren oder Parasiten. Zu den sexuell übertragbaren Krankheiten zählen unter anderem Syphilis, Hepatitis, Herpes genitalis, AIDS sowie Chlamydieninfektionen. Eine der häufigsten STD in der Praxis von Dr. Kempf ist die klassische Gonorrhö, im Volksmund allgemein als Tripper bezeichnet. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation erkranken in einem Jahr weltweit ca. 106 Millionen Menschen an einer Gonorrhö, die damit die dritthäufigste STD darstellt. Hervorgerufen wird die Erkrankung von einem gramnegativen Bakterium namens Neisseria gonorrhoeae, das sich mit speziellen Adhäsinen an die Wirtszellen anheftet und die Epithelzelle schädigt. Beim Mann äußert sich Gonorrhö in einer Harnröhrenentzündung, die relativ einfach zu diagnostizieren ist. Bei Frauen ist die Diagnostik aufwendiger. Diese erfolgt durch einen Urologen mithilfe eines Abstrichs. Behandelt wird Gonorrhö mit Antibiotika. „Bei sexuellem Kontakt mit Männern oder Frauen, die man vorher nicht kannte, gehört die Gonorrhö noch zu den harmlosesten Erkrankungen“ so Dr. Kempf.
In den USA erkranken laut CDC (Pressemitteilung und „Sexually Transmitted Disease Surveillance Report“ ) Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 24 Jahren besonders häufig an einer STD. Etwa 65 Prozent der Chlamydien- und 50 Prozent der Gonorrhö-Diagnosen entfielen auf diese Gruppe. Als Risikogruppe gelten zudem Männer, die Sex mit Männern haben (MSM). 8 von 10 Gonorrhö- und Syphilis-Fälle waren beim „Geschlechtsverkehr unter Männern“ übertragen worden. In Deutschland sind laut dem Robert-Koch-Institut (RKI) derzeit Syphilis-, HIV- und Hepatitis B, C, und D-Infektionen meldepflichtig, weswegen für diese Erkrankungen genaue Daten vorliegen. Beispielsweise nahmen laut dem infektionsepidemiologischen Jahrbuch des RKI aus dem Jahr 2016 die Syphilis-Fälle im Vergleich zum Vorjahr um 19 Prozent zu. Insgesamt wurde 6.800 Mal die Diagnose „Syphilis“ gestellt. Dies ist der höchste Wert seit 2001. Besonders betroffen waren Großstädte wie Berlin (39 Fälle pro 100.000 Einwohner) und Hamburg (21 Fälle pro 100.000 Einwohner). Grund für die vielen Fälle in Berlin ist, dass dort mehr homosexuelle Männer leben. Zudem gibt es in einer Großstadt viele Möglichkeiten zur Anbahnung sexueller Kontakte. Die Kleinstadt knapp 100 Kilometer von München, in der Dr. Kempf seine Praxis betreibt, scheint von den steigenden Syphilis-Infektionen verschont geblieben zu sein. „Syphilis habe ich in zehn Jahren keine einzige gesehen“, so Dr. Kempf. Die Gonorrhö muss seit etwa 15 Jahren nicht mehr gemeldet werden. Lediglich im Bundesland Sachsen besteht eine Labormeldepflicht. Diesen Daten zufolge verdoppelten sich Gonokokken-Infektionen von 6,8 Infektionen/100.000 Einwohner im Jahr 2003 auf 13,7/100.000 Einwohner im Jahr 2011. Chlamydieninfektionen werden in Deutschland pro Jahr auf 300.000 geschätzt. Auf die Frage, ob bei ihm in der Praxis in den letzten zehn Jahren Chlamydieninfektionen zugenommen hätten, antwortet Dr. Kempf: „Die Sensibilität hat sich erhöht. Ich glaube, dass man Chlamydieninfektionen früher einfach als bakteriellen Harnwegsinfekt behandelt hat – und das hat auch funktioniert. Heutzutage wird das jedoch genauer abgeklärt. Das Ergebnis der Differenzialdiagnostik sind dann eben Chlamydien.“
Aus Sicht der Deutschen STI (Sexually Transmitted Infection)-Gesellschaft hängen die gestiegenen Neuerkrankungszahlen damit zusammen, dass die Versorgungsstrukturen in den USA reduziert worden sind. Zudem würden „die vorhandenen Versorgungsstrukturen nur unzureichend den Lebenskontext der Nativ-, Afroamerikaner sowie der Menschen mit lateinamerikanischer Abstammung“ erreichen. Ein weiterer Grund für die gestiegenen Zahlen sieht Dr. Kempf darin, dass viele der ärmeren Prostituierten keine Krankenversicherung haben. Da die Prostitution in allen Bundesstaaten bis auf Nevada strafbar ist, spielt sich seiner Meinung nach vieles im Graubereich ab. Wenn dann die Prostituierten noch wenig Geld, keine anständige Krankenversicherung und klinisch keine großen Beschwerden haben, würden sich die sexuell übertragbaren Krankheiten in der Bevölkerung schnell ausbreiten. „Das ist ein Problem der ärmeren Schichten, die durch die Versorgungslücken fallen. Bei uns [in Deutschland] fällt ja keiner durch. Das Jammern über das deutsche Gesundheitssystem ist Jammern auf sehr gehobenem Niveau. Wenn es so bleibt, wie es ist, kann jeder heilfroh sein“ ist Dr. Kempf überzeugt. Dass allerdings medizinische Präventionsangebote der Krankenkassen von den Versicherten nicht gut wahrgenommen werden würden, kann der Mediziner nicht bestätigen. Eine ähnliche Erfahrung hat auch Dr. Roland Marschner, Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe, gemacht. Er führt bei Frauen zwischen 20 und 25 einmal im Jahr zusammen mit der Vorsorgeuntersuchung das Screening auf Chlamydien trachomatis-Infektionen durch. Die Kosten für den Früherkennungstest werden bis zum 25. Lebensjahr von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Auch im Rahmen einer Schwangerschaftsvorsorge ist ein Test auf Chlamydien üblich. Des Weiteren erstattet die Krankenkasse Impfungen gegen das humane Papillomvirus für 9- bis 14-jährige Mädchen. In der Praxis von Dr. Marschner werden diese sog. HPV-Impfungen jedenfalls gut angenommen.
Internet und Co. beeinflussen STD-Erkrankungszahlen. Nach Einschätzung des RKI sind einer der Gründe für die gestiegenen Syphilis-Erkrankungszahlen Dating-Apps. Denn diese würden die Zahl der Sexualpartner deutlich erhöhen. Zudem sind viele User der Meinung, dass man sich kenne und daher auf Kondome verzichten könne. Auch das Smartphone, das heutzutage die meisten ständig bei sich tragen, erleichtert die Anbahnung sexueller Kontakte. „Allerdings wird da in den Schulen viel Prävention betrieben“, so Dr. Kempf. So würden regelmäßig Kurse zu den Bereichen Internetkriminalität und Anbahnungsversuchen stattfinden – und das verpflichtend für die Jugendlichen. Organisiert und durchgeführt werden diese Kurse von regionalen Selbsthilfegruppen.
Auch das Risikoverhalten in der Bevölkerung scheint zuzunehmen. Das „Slamming“, der intravenöse Konsum synthetischer Drogen, oder auch Chem-Sex (Geschlechtsverkehr unter Drogeneinfluss) haben Deutschland längst erreicht und tragen dazu bei, dass Fälle von STD vermehrt auftreten. Im Bezug auf HIV-Infektionen scheinen auch sog. sero-adaptive Verhaltensweisen bei MSM verbreitet zu sein. Dabei werden Sexualpraktiken zwischen den Partnern anhand des HIV-Status ausgewählt. Dies kann das sog. Sero-Sorting (Sexualpartner passend zum eigenen HIV-Status), das Beenden des ungeschützten Analverkehrs vor der Ejakulation oder das Sero-Positioning sein. Bei Letzterem werden bestimmte sexuelle Positionen (eindringender bzw. aufnehmender Partner bei ungeschütztem Analverkehr) im Hinblick auf den HIV-Status ausgewählt. Wird während des Geschlechtsverkehrs auf Kondome verzichtet, können diese Praktiken jedoch das Risiko für eine STD erhöhen. Vor extragenital übertragenen STD (z. B. durch Schmierinfektion) schützen Kondome allerdings nicht. Beispiel hierfür ist Syphilis.
Das RKI rät neben besseren Informationen dazu, dass MSM sich – abhängig von ihrem Risikoverhalten – alle drei bis zwölf Monate auf STD wie Syphilis sowie Chlamydien- und Gonokokken-Infektionen untersuchen lassen sollten. Um ein Ansteigen der STD-Erkrankungszahlen zu vermeiden, ist es nämlich besonders wichtig, das Risikoverhalten zu verändern und eine STD möglichst früh zu diagnostizieren. Immer noch sind Gespräche über das eigene Sexualleben – auch mit dem Arzt – mit Scham, Zurückhaltung und Tabus verbunden. „Wichtig ist, dass eine Kommunikation in diesem Spannungsfeld zwischen Tabu und Hilfsanspruch gelingt – vertrauensvoll und ohne moralische Vorbehalte“, so der Präsident der Deutschen STI-Gesellschaft, Prof. Norbert Brockmeyer. Daher solle das Thema Sexualität ein fester Bestandteil der Anamnese – insbesondere bei Jugendlichen – sein, so die Theorie. In der Praxis ist das jedoch komplizierter. „Der vernünftige Patient will aufgeklärt werden und der fragt auch nach – allerdings wird der vernünftige Patient selten mit einem Tripper daherkommen“, erklärt Dr. Kempf. Dem unvernünftigen Patienten jedoch sei es egal, was ein Arzt ihm rät. Als Beispiel führt er den Fall eines jungen Homosexuellen an. „Diesen Mann habe ich selbst aufgeklärt und es hat nichts genützt“ meint Dr. Kempf. Denn der junge Mann habe sich bei einem bekannt HIV-positiven Mann angesteckt. „Wenn ich einem Patienten sage, dass ungeschützter Verkehr mit fremden Männern schlecht ist, und er macht es trotzdem – da kommt man als Arzt schon an seine Grenzen“.